Pressespiegel „Die dunklen Hirsche”
Bonner Biennale 2002




General-Anzeiger Bonn  |  17. Juni 2002

Tschechow, Strindberg und ein bisschen Kokain

Das Neue Theater Riga mit Inga Abeles Schauspiel-Debüt "Die dunklen Hirsche" zu Gast auf der Biennale in Bonn

[...] Inga Abeles bemerkenswertes erstes Stück "Die dunklen Hirsche", mit dem erstmals Lettland mit seinem Neuen Theater Riga bei der Biennale dabei ist, bietet freilich mehr als nur die Geschichte einer schwierigen Jugend. Es ist so etwas wie das Panorama des postkommunistischen Lettland, in dem die wirtschaftlichen Verhältnisse so aufregend instabil sind wie die Beziehungen der Menschen untereinander.

Abele ist eine genaue Beobachterin, es gelingen ihr Charakterisierungen von großem Reiz; ihre schönste Figur vielleicht ist Leon, so etwas wie ein Vertreter der lettischen New Economy, ein Gewinner allemal, aber mit übergroßem Herzen. Die junge Autorin, Jahrgang 1972, hat eine Menge Komplimente für ihre kunstfertigen Theaterdialoge bekommen. "Ein Text irgendwo zwischen Tschechow und Strindberg, aber unter Kokain", heißt es bei der Biennale. Da ist schon was dran; Abele kann witzig und böse sein, trifft den Jargon der Zeit ebenso wie einen mitunter ins Lyrische tendierenden Tonfall. [...]

Ulrich Bumann



Bonner Rundschau  |  17. Juni 2002

"Die dunklen Hirsche" und "Sprechen Sie, Petkewitsch"

Dem Verhör widerstehen

[...] "Die dunklen Hirsche", vom Abra Theater Riga in den Kammerspielen gezeigt, ist das Debütstück der jungen Lettin Inga Abele [...] Tatsächlich scheint manches unfertig, aber der Mangel an Glätte gehört zu ihrer überraschenden Kraft. [...] Hier sind es weniger die Männer, die interessieren, als die Frauen des Hofes […] Rias leibliche Mutter Aija im Pelzmantel, in den sich die Tochter hineinstellt – um dann wie in einem Trick die Mutter zwischen ihren Beinen herausschlüpfen zu lassen, wie sie einst aus der Mutter schlüpfte. Es sind zwei Bilder in einem, die erste Trennung von Mutter und Tochter bei der Geburt und nun diese am Wendepunkt. [...]

H. D. Terschüren

Der vollständige Artikel ist im
Archiv der Kölner Rundschau zu lesen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung  |  17. Juni 2002

Überwiegend Theaterflaute aus Ostnordost

Bisher Theaterflaute aus Ostnordost bei Aufführungen aus Kemi, Warschau, Witebsk und Riga: Die "Bonner Biennale – Neue Stücke aus Europa" ist eröffnet

[...] Als Entdeckung ließe sich die lettische Autorin Inga Abele, Jahrgang 1972, feiern, wäre ihr Debüt "Die dunklen Hirsche" nicht in der sehr viel kürzeren Urfassung schon im Januar am Staatsschauspiel Stuttgart aufgeführt worden. Das verquere Familienstück seziert soziale Befindlichkeiten so genau, daß es die Gegenwart des postkommunistischen Lettland womöglich auf die aktuelle Metapher bringt. In seinem Mittelpunkt steht die fünfzehnjährige Ria, von der keiner gemerkt hat, daß sie kein Kind mehr ist: nicht Alf, ihr Vater, der, nachdem Aija, ihre Mutter, in eine Nervenklinik verbracht wurde, auf den Hof seiner Eltern zurückgekehrt ist; nicht die Russin Nadine, die er inzwischen geheiratet hat; nicht der Großvater, der weiter herrisch das Kommando führt; aber bald schon August, ein plötzlich in der Tür stehender Kommilitone und ehemalige Konkurrent von Alf, der sich in Ria verliebt. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, Aija durchgeistert als stummer Vorwurf den Hof, und als Ria die Hirsche, die geschlachtet werden sollen, damit das Fleisch an den neureichen Restaurantbesitzer Leon verkauft werden kann, freiläßt, brechen auch Dämme des Unterbewußtseins.

Emotionale Verschlingungen fast wie bei Tschechow, Bizarrerien fast wie beim Gombrowicz, Hysterien fast wie bei Strindberg: Inga Abele reflektiert in den individuellen Schicksalen auch einen gesellschaftlichen Umbruch, in dem überkommene Männerroheiten und aufgebrauchte Frauenduldsamkeit nicht mehr tragen, und die Inszenierung von Viesturs Kairiss stellt das Stück, in dem schwarz verschachtelten, geschickt ausgeleuchteten Bühnenbild von Jeva Jurjane, so prägnant auf die Sprache, daß es an seinen symbolischen Überfrachtungen nicht schwer zu schleppen hat: Knapp und klar, wie die Schauspieler des Abra Theaters Riga die Figuren herausschälen, wird aus der düsteren Geschichte spannendes Erzähltheater. [...]

Andreas Rossmann



Süddeutsche Zeitung  |  17. Juni 2002

Psychologische Kriegsführung gegen sich selbst

Nachtgestalten auf der Bonner Biennale: Zweimal Sarah Kane aus England und neue Stücke aus Polen, Finnland und Lettland

[...] Ihre „Dunklen Hirsche” kündigt die lettische Autorin Inga Abele (30) seltsam genug als „Komödie in einem Aufzug” an. Eine Familiengeschichte und ein Eifersuchtsdrama, in dem der Flügelschlag der „Möwe” und „Wildente” von fern hörbar ist. Vom Abra Theater Riga wird das zwar formal konsequent in düsterer Strenge mit akzentuierten Lichtinseln gestaltet, ist aber darin noch angestrengter um Wirkungsmächtigkeit bemüht, als das Stück selbst in seinem schwerblütigen, symbollastigen Anspruch. [...]

Andreas Wilink

Der vollständige Artikel ist bis zum 16. 7. 02 bei der
Süddeutschen Zeitung zu lesen.

Westfälischer Anzeiger  |  18. Juni 2002

Der Tod ist mein Liebhaber

Die Biennale – zum sechsten und letzten Mal in Bonn: Suggestive Inszenierungen und schroffe Anti-Stücke aus dem vielstimmigen Haus Europa

[...]
Umjubelter Beitrag aus Lettland

[...] Kontrastprogramm zu diesen Anti-Stücken war der grandiose und umjubelte lettische Beitrag „Die dunklen Hirsche” der jungen Autorin Inga Âbele. Sie führt uns in die Abgründe der menschlichen Psyche, symbolisiert von den dunklen Hirschen, die von einem vitalen und aufsässigen jungen Mädchen zunächst befreit und später erschossen werden. Regisseur Viesturs Kairiðs entfaltet die Geschichte mit konsequentem Stilwillen – wir erleben eine puristische, sehr dunkle Bühne, suggestive akustische Motive und nicht zuletzt starke Schauspieler. Der große Erfolg von Stück und Inszenierung ist Beweis dafür, dass Menschen Menschen nie aufhören werden, nach Geschichten zu hungern. [...]

Eva Schäfers



Saarbrücker Zeitung  |  18. Juni 2002

Marathon ohne Todesfolge in Bonn

[...] Ein Hauch Tschechow, eine Prise Strindberg, Alltagspoesie und Geschlechterkampf prägen ein Theaterlicht, das in Lettland aufging. Das Debüt der 31-jährigen Inga Abele, „Die dunklen Hirsche”, gerät zu einer kleinen theatralischen Offenbarung. Alfs Frau Aija, seit einem Autounfall verstummt und Patientin in der Psychiatrie – lange nur in den Köpfen von Töchterchen Ria, ihres Papas und seines Schulfreunds Augusts präsent – taucht eines Tages wieder auf. Immer noch wortlos, bringt sie heilloses Durcheinander in deren schon lange zuvor aus den Fugen geratenen Leben am Rande der Welt. Eine verwirrende Geschichte, in der die Charaktere der Menschen vielschichtig oszillieren und voller Geheimnisse bleiben. In Europas Osten bewegt sich was.

Günther Hennecke



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