Ralfs Berzinskis

Der verwunschene Mond

textum theatralis

Übertragung aus dem Lettischen
und Dramatisierung von Matthias Knoll

 



Es wirken

der Mond
der andere Mond
eine Stimme
die Klosterwände
der Steinfußboden
der Gekreuzigte
der eine Mönch
der andere Mönch
das Mädchen
der Weg
die Mohnblume
der Hund
der Gärtner
die Rosen
der Regenbogen
die Welle
ein Stein
die Blume
der Nebel
der Stern
der Greis
das Glück
die Leiden
der Berg
der Asket bzw. Weise
die Offenbarung
die inneren Stimmen des Asketen
die Frau der Träume
der Mond im Mond
die Schritte der Bergsteiger
der Knabe
die Stimme des Steines
die Schlange
das Wasser
der Fluß
die Wolke
der Wind

 

 


 

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der andere Mond · In mir sehen Sie denjenigen vor sich, von dem das folgende Stück stammt. Es ist dem Unterbewußtsein gewidmet, ohne das es nicht hätte entstehen können. Nichts von dem, was hier gesagt wird, bedeutet das, was es bedeutet. Diese Warnung bezieht sich auch auf den Prolog, den Sie augenblicklich hören. Jeder Satz hat seine eigene, besondere Bedeutung. Die Sätze zusammen-genommen haben ebenfalls eine eigene, besondere Bedeutung, in welcher die Bedeutung der einzelnen Sätze enthalten ist – und noch etwas anderes. Ebenso bedeuten auch die Menschen zusammen mehr als jeder einzelne für sich. Vielleicht noch ein Hinweis: Der Mond ist verwunschen, weil ein Fluch auf ihm liegt.

Chor der Stimmen · Auf daß du, in ewigen Irrungen lebend, die Wahrheit suchest.

 

 

I


der andere Mond · Der Mond erwacht. Heute muß er das Kloster verlassen, in dem er lebt. Für seinen Aufbruch gibt es einen Anlaß: er hat seine Traumwelt erreicht.

eine Stimme · Und wer keinen Traum hat, nach dem er strebt, der ist gestorben. Für die Toten gibt es keinen Platz unter den Lebenden.

die Klosterwände · Verzweiflung läßt die Welt sich regen. Der Tod ist immer glücklich.

der Mond (für sich) · Ich habe den Tod erreicht. Ich habe meinen Traum verwirklicht. Aber ich lebe. Der Traum setzt sich fort. Ich will in der Welt leben, in der ich leben will.

der Steinfußboden · Du wirst immer in einer Welt leben, die du erschaffst. Wenn du diese Welt nicht selbst erschaffst, wird dies ein anderer an deiner Stelle tun. Doch dann wird es nicht mehr deine Welt sein. Sie zwingt dich, deinen Traum zu verlassen.

der Gekreuzigte · Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

der eine Mönch · Du wirst immer allein sein, und wenn jemand bei dir ist, so wird es dein Traum sein. Alle Dinge, die du besitzt, werden dich verlassen. Alle Mädchen, die du berührst, werden dich verlassen. Wenn jemand bei dir ist, so wird er nur eine Zeitlang bei dir sein. Auch dein Traum wird nur eine Zeitlang bei dir sein. Weshalb setzt du dir kein Ziel?

der Mond · Es würde mir manche Möglichkeit nehmen. Es würde mir die Empfindsamkeit nehmen. Ich werde einfach den Weg gehen.

der andere Mond · Im Folgenden wird nicht darauf hingewiesen, was Leben ist und was Traum, denn das Leben setzt sich in den Träumen des Mondes fort, und die Träume setzen sich im Leben des Mondes fort. Sie unterscheiden sich nicht voneinander. Ich habe den Mond erschaffen, um in Träumen zu leben; er wird sie alle zusammenhalten. Ich lebe mit ihm, und er lebt mit mir. Ich bin der Mond, und der Mond, das bin ich.

Von dem Berg, auf dem das Kloster steht, spaltet sich ein Stein ab. Er fällt, und während seines Fallens  prallt er mehrmals gegen den Berg; schließlich fällt er in einen trüben Fluß.

der andere Mond · Der Stein ist gefallen. Jetzt steckt er im Schlick auf dem Grund des Flusses. Innerlich jedoch fährt er fort zu fallen. Für alle Zeiten.

der Mond · Die gegenwärtigen Vorstellungen müssen zerbrochen und eine neue Wirklichkeit entdeckt werden.

der andere Mond · Der Mond muß in eine andere Welt eintreten. In eine Welt, der er anzugehören beginnt.

Die Tür des Klosters öffnet sich mit einem Geräusch, das darauf schließen läßt, daß sie noch niemals  geöffnet worden ist. Die Sonne scheint herein, grünes Gras und ein steiniger Weg sind zu sehen. Der  Mond atmet die frische Bergluft ein, doch er zögert hinauszutreten.

der andere Mond · Er hat Angst, den ersten Schritt zu tun. Die Wände des Klosters sind warm und behaglich. Hier gibt es Staub, der so gewohnt ist. Die äußere Welt wirkt bedrohlich.

das Mädchen · Du bist doch schon aufgebrochen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du hierbleiben könntest. Du hast dich von deinem alten Leben losgesagt. Es wäre Heuchelei, zu bleiben.

Der Mond bleibt stehen. Er wirkt ein wenig verärgert.

der Mond · Was erlaubt sie sich, so etwas zu sagen! Und doch hat sie recht. Mehr als recht. Und auf das Recht kann man nicht böse sein.

Er macht den ersten Schritt.

der Weg · Die Welt wird stets größer sein, als du dir vorgestellt hast. [...]

1993 - 1995






Originaltitel: Noburtais mçness

Dem Stück liegt eine Erzählung von Ralfs Berzinskis zugrunde.
Die Dramatisierung des Textes liegt nur auf deutsch vor.

Gesamtumfang: 52.335 Zeichen / 29 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 4.003 Zeichen (8%)

© Matthias Knoll

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