Ralfs Berzinskis
Der verwunschene Mond
Erzählung
0.
Widmung
Gewidmet dem Unterbewußtsein, ohne das das Geschriebene
nicht geschrieben worden wäre.
Warnung an den Leser
Das in diesem Buch Gesagte bedeutet niemals das,
was es bedeutet.
Anmerkung
Diese Warnung bezieht sich auf das ganze Buch
einschließlich der Warnung selbst.
Sinn
Jeder Satz hat seine eigene, besondere Bedeutung.
Die Gesamtheit der Sätze hat ebenfalls ihre eigene, besondere Bedeutung,
in der die Bedeutung der einzelnen Sätze
und noch etwas mehr enthalten ist
so wie auch die Gesamtheit der Menschen mehr bedeutet,
als jeder einzelne für sich.
Fluch
Auf daß du, in ewigen Irrungen lebend,
die Wahrheit suchest.
Hier ist der Beginn
1.
Der Mond erwachte. Heute mußte er das Kloster verlassen, in dem er gelebt hatte. Es gab einen Grund fortzugehen: der Mond hatte seine Traumwelt erreicht. Und wer keinen Traum hat, dem er entgegenstrebt, der ist gestorben. Für die Toten gibt es keinen Platz unter den Lebenden. Die Wände des Klosters sprachen: Verzweiflung läßt die Welt sich regen. Der Tod ist immer glückselig. Der Mond dachte: Ich habe den Tod erreicht. Ich habe meinen Traum verwirklicht. Aber ich lebe. Der Traum setzt sich fort. In einer Welt will ich leben, in der ich leben will. Der Steinboden ertönte: Du wirst immer in einer Welt leben, die du erschaffst. Wenn du diese Welt nicht selbst erschaffst, wird es ein anderer an deiner Stelle tun. Doch dann wird es nicht mehr deine Welt sein. Sie zwingt dich, deinen Traum zu verlassen. Der Gekreuzigte sagte: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Der geistliche Bruder sagte: Du wirst immer allein sein, und wenn jemand bei dir ist, so wird es dein Traum sein. Alle Dinge, die du besitzt, werden dich verlassen. Alle Mädchen, die du berührst, werden dich verlassen. Wenn jemand bei dir ist, so wird er nur für eine Zeitlang bei dir sein. Auch dein Traum wird nur für eine Zeitlang bei dir sein. Weshalb setzt du dir kein Ziel? Der Mond sagte: Weil es mich mancher Möglichkeit berauben würde. Es würde mich der Empfindsamkeit berauben. Ich werde einfach den Weg gehen. Der Autor sagte: Im Folgenden wird nicht gesagt, was Leben ist und was Traum, denn das Leben setzt sich in den Träumen des Mondes fort, und die Träume setzen sich im Leben des Mondes fort. Sie unterscheiden sich nicht voneinander. Ich habe den Mond erschaffen, um in Träumen zu leben. Er wird sie alle zusammenhalten. Ich lebe mit ihm, und er lebt mit mir. Ich bin der Mond, und der Mond, das bin ich. Von dem Berg, auf dem das Kloster errichtet war, spaltete sich ein Stein ab. Er fiel, prallte gegen den Berg, fiel, prallte, fiel, prallte ... Schließlich fiel er in einen trüben Fluß und versank im
Schlick. Doch innerlich fuhr der Stein fort zu fallen. Und es endete nie. Die gegenwärtigen Vorstellungen mußten zerbrochen, und eine neue Realität entdeckt werden. Der Mond mußte in eine andere Welt eingehen. In eine Welt, der er anzugehören begann. Die Tür des Klosters, die niemals geöffnet worden war, öffnete sich jetzt. Die Sonne schien durch sie herein. Der Mond spürte die würzige Bergluft. Er erblickte grünes Gras und einen steinigen Weg. Er zögerte und fürchtete sich hinauszutreten. Die Wände des Klosters waren warm und behaglich. Hier gab es Staub, der bereits so gewohnt war. Die äußere Welt schien gefährlich. Das Mädchen sagte: Du bist schon
aufgebrochen. Ich vermag mir nicht vorzustellen, daß du hier bleiben könntest. Du hast dich von deinem alten Leben losgesagt. Es wäre Heuchelei, zu bleiben. Der Mond versuchte zu bleiben. Das Mädchen hatte ihn ein wenig verärgert. Wie konnte es sich nur erlauben, so etwas zu sagen! Es hatte jedoch recht. Mehr als recht. Auf das Recht kann man nicht böse sein. Der Mond konnte nicht bleiben. Er machte einen Schritt ... Der Weg sagte: Die Welt wird stets größer sein, als du sie dir vorstellst.
2.
Der Mönch sagte: Es ist schon traurig, daß du fortgehst. Aber das macht nichts, du wirst bestimmt zurückkehren. Laß die Tür hinter dir offen. Der Mond antwortete: Die ganze Zeit kletterten wir eine hohe Wand empor. Jemand hatte gesagt, daß jenseits dieser Wand ein wunderbarer Garten liegt, mit Obstbäumen und klaren Bächen. Wir kletterten, und nie war das Ende zu sehen. Manche fielen, aber die übrigen kletterten weiter, und niemand machte sich Gedanken, was mit den Gefallenen geschehen war. Ich wurde es leid, mich mit Zähnen und Nägeln an dieser steinernen Wand festzuhalten. Müssen wir tatsächlich immer so klettern? Gibt es niemanden, der zeigen kann, wo das Tor ist? Erschöpft stand ich wieder auf der Erde. Ich erblickte einen Pfad und begann ihm zu
folgen. Manchmal gab es einen Baum, um darunter zu ruhen, und einen Bach, um daraus zu trinken. Ich verspürte einen eigenartigen Frieden. Als ob jemand dasjenige wüßte, was ich nicht wußte. Und für mich sorgte. Im Traum habe ich oft einen Garten gesehen. Er war so wunderbar, daß das Erwachen schmerzte. Deshalb wache ich nicht mehr auf.
3.
Am Feldrand stand ein kleiner Hund. Er stand fest mit seinen Pfoten auf der Erde, denn niemand würde ihm helfen, wenn er nicht selber stehen würde. Der kleine Hund war allein, und obgleich er oft von anderen Hunden umgeben war, war er dennoch allein. Der kleine Hund war herrenlos, er hatte keinen starken und verläßlichen Menschen, für den es sich lohnen würde, mit dem Schwanz zu wedeln, zu winseln und für den es sich lohnen würde zu leben. Die Mohnblume sagte zu dem kleinen Hund: Fürchte dich nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wertvoll und wichtig du für mich bist. Du bist wunderbar allein deshalb, daß du bist genau so und nicht anders. Ich liebe dich, kleiner Hund. Hast du bemerkt, wie herrlich alles umher ist, wie wunderbar und lieblich? Diese Berge, dieser Weg, dieses Feld! Öffne dein Herz, und du wirst sehen, daß du jeden Grashalm lieben kannst, jedes Sandkorn, jeden Tautropfen. Siehst du, welch Einklang herrscht in der Natur? Wie der Wind weht und die Wolken segeln, und wie die Sonne sie schmückt mit ihren Strahlen? Das ist so, weil alles von Liebe durchwoben ist. Auch zwischen uns
bestehen unsichtbare Bande der Liebe. Fühlst du? Du bist sehr, sehr wertvoll für mich. Ich schaue dich einfach an und bin glücklich. Glücklich darüber, daß es dich gibt und daß du hier bist. Unsere Herzen sprechen miteinander, und eine andere Sprache ist nicht nötig. Ich blicke berauscht in deine Augen, und sie sagen alles. Der Wind bewegt die Haare in deinem Fell, und ganz genau so bewegt er meine Blätter. Niemand auf der ganzen Welt ist mir so nah ... Der kleine Hund sagte: Mein liebes Mohnblümchen! Danke für diese schönen Worte. Das war ein wunderbarer Augenblick, und auch ich will dir etwas sagen. Du willst alles und alle lieben, aber dein Herz ist zu klein, und deshalb schmerzt es so sehr. Du bist bis zur Unvernunft verliebt in den Vogel, der über dich hinwegfliegt, doch schon im nächsten Augenblick hast du ihn vergessen. Deine Liebe strahlt nach allen Seiten, aber nirgendwo verweilt sie. Wenn sie gerade jemanden zu wärmen beginnt, reißt du sie fort. Und es schmerzt dich, denn du kannst nicht alle lieben. Doch vielfach mehr schmerzt es diejenigen, die an deine Liebe geglaubt und sie verloren haben. Wenn du so glücklich bist und erfüllt von Liebe, warum fließen dann so oft Tränen über deine roten Wangen? Nein, kein Tau, sondern Tränen. Deshalb, weil dir dasselbe fehlt wie mir. Etwas Wahres, Verläßliches. Jemand, der dich gänzlich begreift ... Die Mohnblume sprach
unter Tränen: Warum hast du mein schönes Märchen zerstört? Der Mond sagte: Alles, was mir begegnet, wird zu einem Teil von mir und lebt in mir fort. Die Mohnblume ist in mir und der kleine Hund ist in mir. Der kleine Hund sagte: Ich lebe in dir, solange du dich an mich erinnerst, und ich sterbe in dir, wenn
du mich vergessen haben wirst. Du wirst mein Ernährer sein und mein Mörder. Und ich kann nichts daran ändern.
4.
Ein Gärtner hatte an jener Stelle Rosen gepflanzt, und nach langer Zeit war er nun gekommen, sie zu betrachten. Sie waren groß, kräftig und voller Dornen ganz anders, als der Gärtner sie zu sehen sich gewünscht hatte. Sie waren selber gewachsen, und die Wünsche des Gärtners kümmerten sie nicht. Der Gärtner sagte: Wofür diese Strafe? Weshalb dieser Undank? Ich war es doch, der euch in die Erde gepflanzt hat. Ich war es, der euch begossen hat. Ich wollte, daß ihr schön werdet und mich erfreut. Doch ihr seid herb, gedrungen und dornig geworden! Die Rosen sagten: Daß wir wachsen konnten, verdanken wir dir. Und wir hätten dir gerne eine Freude bereitet. Doch das konnten wir nicht. Sieh dich um wie rauh nur alles ist! Welch scharfe Winde wehen im Winter! Weißt du, wie es schmerzt, wenn sich ein weißes Hagelkorn in dich hineinbohrt? Und wie es ist, wenn monatelang die Sonne auf die Erde niederbrennt? Wir wollten nicht, daß uns jemand zertritt. Wir wollten nicht, daß jemand an uns nagt. In erster Linie wollten wir leben. Deshalb sind wir so geworden, wie wir sind. Wir können uns nicht erlauben, jemandem zur Freude zu leben. Denn jemandem zur Freude zu leben bedeutet, für sich selbst zu sterben. [...]
1993-95
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
Lettischer Originaltitel: Noburtais mçness
Aus: Noburtais mçness [Riga: SIA Datorzinîbu centrs, 1997], S. 5ff
(siehe auch die Homepage von Ralfs Berzinskis und die dramatisierte Fassung)
© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: 54.172 Zeichen | Umfang der Leseprobe: 9.255 Zeichen (17%)
Frei zur vertraglich geregelten Verwertung im deutschsprachigen Raum
www.literatur.lv
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