Mâris Èaklais

Der Junge, der das Wunder verlor

Märchen


Es war einmal ein Junge – nennen wir ihn Oskar –, der besaß ein Wunder. Niemand hatte dieses Wunder gesehen – außer ihm selbst. Wie Oskar zu dem Wunder gekommen war? Einst, als er noch ganz winzig klein war, bekam er zu Weihnachten... ein leeres Konfekt. So ein großes, buntes, mit Fransen an den Enden... aber leer.
    Seitdem lebte das Wunder in Oskars Tasche. Dort, wo die anderen Jungs verschiedene Spielzeug- und später auch echte Pistolen mit sich herumtrugen, trug Oskar ein Wunder. Er brauchte nur die Hand in die rechte Hosentasche zu stecken, und abermals konnte er ausrufen: „Das hat die Welt noch nicht gesehen!“ Große Wolken zogen ihn wie Pferde in den Himmel hinauf. Das Große wurde nah, das Kleine wurde groß. Die Frösche im Straßengraben ließen ihre Astronautenanzüge platzen. Und wie an einem schimmernden Strang ließ sich an einem Sonnenstrahl seine Mutter, seine Mama herab, die nun schon manches Jahr unter einer anderen Sonne lebte.
    Nein, das waren nicht solche Visionen, die nur ein Bild, aber keine Erlebnisse bieten.
    Erlebnisse wie in die Schule gehen und nach Hause trödeln, Winter- und Sommerfreuden, der herrliche Wechsel von Schul- und Ferientagen.
    Die Jahresläufe liefen, die Traumschaukeln schaukelten. Bis... bis ein allgemeines Wunder in die weit gewordenen Lüfte aufstieg und das Wort ,Freiheit’ sich in den Himmel schrieb.
    Die einen trugen Fahnen, die anderen nur ihr Haupt hoch erhoben, doch die Wahrheitstriebe sprossen – jeder Blume im Sommer, jeder Tanne im Winter.
    Aber die Zeit verstrich, der Nebel wich, und es dauerte gar nicht so lange, bis die Wunder wie Blumenkränze in den Hausfluren, auf Dachböden und Speichern vertrockneten.
    Und eines Abends, als Oskar sich von einer Gesellschaft zur anderen begab, schien ihm, daß etwas zu Boden klimperte, als er in sein Auto stieg.
    Er kramte in der einen Tasche: leer; kramte in der anderen: ebenfalls leer.
    Das war früher schon x-mal passiert, und das Wunder kehrte dennoch stets zurück.
    Doch diesmal erwies sich – andere Zeiten, andere Kehren; Gutes wurde gerafft, zu Schaffendes geschafft, und ohne Wun... das heißt, ohne leeres Konfekt war ganz gut zurechtzukommen.
    Nicht, daß es gar keine Wunder mehr gab, nein: Neues Spiel, neues Glück, Helle und Schnelle. Getrippel trippelte, Gewippel wippelte.
    Aber Oskar schwante – irgendetwas ist nicht mehr wie früher! Er wußte schon fast alles im voraus. Die Wunder waren vorhersehbar. Und was ist das für ein Wunder, das vorhersehbar ist! Wenn alle „a“ sagen, ist „c“ schon nicht mehr schwer zu erraten. Und irgendein Ärger pickte und zwickte – Vögel flatterten umher, Züge kreischten, Stadtverkehr... [→ Weiterlesen ...]

1995
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Lettischer Originaltitel: Puika, kas pazaudçja brînumu
Aus: Divi dzîvi zaldâtiòi un citas pasakas [Riga: Likteòstâsti, 1996], S. 67ff

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Erschienen in: wespennest Nr. 128, S. 62
Gesamtumfang: 6.685 Zeichen / 4 Normseiten, publikationsfertig
Umfang der Leseprobe: 2.737 Zeichen (41%)

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