Lauris Gundars

Wagner wird nicht wiederkehren

Stück in zwei Aufzügen



Personen:

Richard Wagner, 26, Kapellmeister am Rigaischen Stadt-Theater und Komponist
Minna Wagner, 31, seine Frau
Amalia Planer, 21, deren Schwester, Solistin am Stadt-Theater
Karl von Holtei, 41, Direktor des Stadt-Theaters
Heinrich Dorn, 35, Kantor und Musikdirektor von Riga sowie Komponist
Abraham Möller, 35, Jurist aus Königsberg
Johann Hoffmann, 39, Solist am Stadt-Theater (Tenor)
Dr. Prutzer, 45, Hausarzt der Familie Wagner
Monsieur Jardin, 70, Ballettmeister am Stadt-Theater
Enrio Jardin, 33, dessen Neffe
Otto Karlowitz, 32, Posaunist im Orchester des Stadt-Theaters
Karl von Meck, 29, Rottmeister der Russischen Armee
Johann Friedrich Baumann, 60, Maler
Maija, 23, dessen Frau, eine Lettin
Maskenballgäste, Tänzerinnen, Musikanten, Theaterdiener, Soldat

Zeit:

1. Aufzug: 22. Juni 1839
2. Aufzug, 1. Szene: 23. Juni 1839
2. Aufzug, 2. Szene: ein Monat später




1. Aufzug

Saal des Rigaischen Stadt-Theaters. Auf der Bühne ein geöffneter Flügel, daneben ein Dirigentenpult, darauf ein Metronom, Noten, eine Gänsefeder und eine brennende, stark tropfende Kerze. Im Bühnenhintergrund hängt ein gemalter Prospekt für ein Opernbühnenbild – ein idyllischer Garten.
Karl von Holtei in Morgenrock und Pantoffeln sowie Monsieur Jardin in hellen Lederhosen und mit einer starkgelockten schwarzen Perücke auf dem Haupt betreten die Szene.
JardinIch würde ich weiß nicht was dafür geben, um noch einmal durch die Straßen von Paris spazieren zu können! Ich beneide dich.
HolteiDort beginnt einem erst zu schwanen, daß man selber in der tiefsten Provinz lebt. Hier vergißt man das, wir gewöhnen uns daran und lassen es dabei bewenden.
JardinVerenden, wir verenden...
Die beiden machen sich daran, die Bühne leerzuräumen: das Pult wird weggetragen, der Flügel beiseite geschoben.
HolteiKomm doch diesmal mit. Verzeih mir, aber manchmal frage ich mich, wer sich wohl in Frankreich noch an dich erinnert – nach dreißig Jahren... Dein Bruder ist inzwischen guillotiniert...
JardinDiejenigen, die er guillotiniert hat, haben schließlich Verwandte und vor allem Kinder hinterlassen, und zwar einen ganz ordentlichen Haufen.
HolteiDu bist ja ebenfalls ein Freund von Ordnung.
JardinDeine Ironie ist fehl am Platze. Ja, ich bin ein Freund von Ordnung. Und das ist mein Unglück.
Holtei zieht den Prospekt empor. Dahinter steht, überrascht gegen die rückwärtige Mauer gedrückt und eine Posaune in der Hand, Otto Karlowitz. Er weiß offensichtlich nicht, wohin er entkommen soll. Holtei lacht.
KarlowitzVerzeihen Sie, Herr Direktor...
HolteiWarum bist du nicht in Mitau?
KarlowitzIch... Ich muß nicht...
HolteiDas ganze Orchester muß, und du nicht?
JardinEr ist entlassen. Wagner hat alle Blechbläser entlassen.
Holteilacht  Ach, und was hat er jetzt vor? Will er sich mit den Streichern begnügen?
JardinEr hat Lebmann aufgetragen, ein paar vom Garnisonsorchester auszuleihen. Die sollen ein Quentchen besser sein als diese Feuerwehrmänner hier.
HolteiUnd weshalb weiß der Direktor von nichts?
JardinWagner. Deshalb.
Holteilacht, zu Karlowitz  So, und du bist also hergekommen, um Wagner anzuflehen? Das ist vollkommen aussichtslos! Er ist der Herrgott persönlich – streng, gerecht und unbeugsam!
KarlowitzNein, nein, ich bin einfach nur so... Ich hab’ hier irgendwo mein Mundstück verloren. Auf Wiedersehen!  Ab.
HolteiNach Paris, so schnell wie möglich nach Paris!
JardinDu willst mich wohl absichtlich piesacken, was?
HolteiJa! Schließlich bist du noch nicht tot!
JardinHör auf mit dem Unsinn! Laß uns lieber arbeiten. Nun zeig’ schon! Und hör auf zu grinsen! Ich gehe gleich!
HolteiNein, bleib! Schau her!  Er nimmt die Ausgangsposition für einen Tanz ein.  Und-eins-und-zwei, eins-und-zwei...
Er führt auf recht ungeschickte Weise einen Tanzschritt vor. Nachdem Jardin einen Augenblick lang zugesehen hat, beginnt er, Holteis Bewegungen nachzuahmen.
BeideUnd-eins-und-zwei, eins-und-zwei...
Jardin gerät ins Schwitzen und nimmt die Perücke ab; darunter ist er kahl.
JardinMuß man das Bein wirklich so hoch heben?
HolteiSogar noch höher. Ich bringe es einfach nicht fertig, aber sie heben es noch höher.
Johann Hoffmann tritt ein. Holtei hält inne, Jardin jedoch fährt fort, den neuen Tanzschritt zu probieren.
Hoffmannzu Holtei  Haben Sie es ihm gesagt?
Holteilacht  Guten Tag, Herr Hoffmann! Sie zittern?
HoffmannGuten Tag. Verzeihung. Haben Sie es ihm gesagt, Herr Direktor?
HolteiIch hatte noch nicht die Gelegenheit, Herr Direktor in spe.
HoffmannSie reisen morgen ab, aber wir werden hierbleiben...
HolteiSind Sie doch zu dem Schluß gekommen, daß das Direktorenamt zu schwer für Sie ist?
HoffmannNein, nein, ich habe keine Angst, aber... aber Sie verstehen doch: das ganze ist so unangenehm...
Jardinzu Holtei über den Tanz  Schau mal, ist es richtig so?
HolteiEs ist kein Ballett, sondern ein Tanz, ein Tanz... Bleiben Sie, Herr Hoffmann! Fühlen Sie sich vom Herrn Kapellmeister tatsächlich so sehr eingeschüchtert?
HoffmannNein, keineswegs. Verzeihen Sie... aber dennoch setze ich meine ganze Hoffnung auf Sie. Sie haben doch versprochen, daß Sie es ihm selber sagen würden. Sie wissen doch, wie er ist...
HolteiJa, natürlich, natürlich!
HoffmannDanke. Verzeihen Sie...  Ab.
JardinEunuch bleibt Eunuch.
HolteiKeine Bange, seine Frau wird nicht zulassen, daß er einen schlechten Direktor abgibt.
JardinWarum hast du dann nicht gleich seine Frau eingestellt!
Holteilacht  Dich hätte ich wohl einstellen sollen, was?
JardinBei den Russen gibt es keine Guillotine.
Holteilacht lauthals  Meinst du Wagner?
Jardinweiterhin tanzend  Und so wird jetzt tatsächlich in Paris in aller Öffentlichkeit getanzt?
HolteiFast in aller Öffentlichkeit.  Er lacht und nimmt den Tanzschritt wieder auf.  Und-eins-und-zwei, eins-und-zwei... Also, komm doch mit!
Jardin tritt Holtei in den Hintern, Holtei lacht. Plötzlich kommt Karl von Meck hereingeeilt und schaut sich verstohlen um. Er trägt eine Rottmeisteruniform und an der Seite einen Degen. Jardin setzt hastig seine Perücke wieder auf.
MeckVerzeihen Sie, Herr Direktor...
HolteiKommen Sie nur, kommen Sie, Herr Rottmeister!  Sie reichen einander die Hand.  Suchen Sie Ihre Verlobte?
MeckIst Amalia hier?
HolteiKeine Ahnung, ich habe sie nicht bemerkt.
MeckNein, nein, ich... ich kam nur gerade zufällig vorbei.
HolteiEin wenig mit Ihrem künftigen Verwandten plaudern, ja?
MeckNun ja, für gewöhnlich hockt er ja hier herum... tagein, tagaus...
HolteiTja, wo er wohl geblieben ist...  Er ruft  Wagner, Herr Wagner! – Er ist nicht hier.
MeckUnd zu Hause auch nicht. Und Amalia auch nicht.
HolteiSie glauben, daß die beiden, sozusagen...
MeckWas für ein Unsinn! Verzeihen Sie!
HolteiAber sie proben doch recht häufig gemeinsam.
MeckVerzeihen Sie, daß ich gestört habe. Die Pflicht ruft.  Schlägt die Hacken zusammen, ab.
Holtei tut es ihm gleich und schlägt die Hacken seiner Pantoffeln zusammen.
HolteiNun sieh dir an, was in Rußland von einem richtigen Deutschen übrigbleibt. Bloß gut, daß ich noch nicht so lange hier lebe. Das ist doch ein Nervenbündel, kein Offizier. Kleinlich und beschränkt. Ein erbärmliches Mannsbild. Trotz der Stiefel.
JardinAn dem Mann fehlt es an nichts.
HolteiKein Geistesflug, keine Vision...
JardinAber deine Pfeffersackweiber flattern durch die Gegend wie die Libellen.
Holteilacht  Die Weiber müssen auf dem Boden bleiben!
JardinVoila – Wagner ist ein einziger Höhenflug.
HolteiAber dir hat er auch einmal gefallen...
JardinAls Mann...
HolteiKannst du den Körper etwa trennen von seiner ewigen Unzufriedenheit, den hysterischen Anfällen und der ewigen Schwarzmalerei?
JardinWarum gehen immer die besten fort? Pardon, bitte mach’ dich nicht lustig über mich. Warum nur beschließt das Schicksal, daß ausgerechnet du fortgehen mußt?
HolteiDamit ich hier nicht zusammen mit dir verfaule.
JardinHättest du bloß die Finger von der Gouverneurstochter gelassen, dann wäre nichts passiert, und du könntest so lange in Riga bleiben, wie du willst. Das war einfach ein dummer Unfall...
HolteiUnd Gott sei Dank, daß es solche Unfälle gibt! Dann fühlt man erst, daß man lebt! – Nun, kannst du den Schritt noch? Mach’ nicht so eine saure Miene!
Jardin nimmt die Ausgangsstellung für den Tanz ein.  
HolteiUnd-eins-und-zwei, eins-und-zwei...
Jardin ist bemüht, den Rhythmus zu halten, den Holtei fortan klatscht.
Möllerdeklamiert singend aus den Kulissen  
Was Schiller, Goethe, Lessing hehr ersonnen,
von deinen Lippen soll es klingend strömen!
Lachend tritt Abraham Möller aus den Kulissen hervor, in der Hand Weinflasche und Glas. Offensichtlich hat er erwartet, jemand anderen auf der Bühne anzutreffen.
HolteiZwar ist der genialische Wagner nicht hier, aber auch ich freue mich, dich zu sehen, Abraham!  Er lacht und umarmt Möller.  Wann bist du angekommen?
MöllerHeute morgen. Um dich zu begleiten.
HolteiPsst, nicht so laut! Niemand weiß davon... Aber woher weißt du es?
Möllerruft  Heinrich! Heinrich!
Mit einem schwachen Lächeln erscheint Heinrich Dorn.
Holteizu Dorn  Hast du dich versteckt?
MöllerDas hat er.
HolteiAber warum? Vor wem denn?
DornUnsinn! Ich bin lediglich bei dir oben gewesen, ich nahm an, du seist in deiner Wohnung.
Holteizu Möller  Aber du bist doch nicht meinetwegen angereist!
MöllerIch lechze danach, den Widrigkeiten des Daseins zu entrinnen!
Holtei lacht  Wagner wird dir seine eigenen noch dazu aufbürden!
Möller schenkt Wein nach und reicht das Glas Holtei.
HolteiKannst du bis zum Abend bleiben?
MöllerIch habe sämtliche Mandanten in Königsberg zurückgelassen und bin frei wie ein Vogel.
HolteiEin Vogel, der sogleich, wie mir scheint, Selbstmord begehen wird!  Er lacht.  Wir haben heute abend eine nette kleine Zusammenkunft. Du kommst genau richtig! Kann ich mit dir rechnen?
MöllerHabe ich etwa schon eine schwere Zunge?
Holtei lacht und trinkt. Möller schenkt für Jardin ein, dieser lehnt ab, Dorn ebenfalls. Möller trinkt selber und schenkt sich nochmals nach.
Dornzu Möller  In der Tat, Abraham, es ist noch lange bis zum Abend.
Möllerscharf  Und die Sonne steht noch hoch am Himmel!  zu Holtei  Was treibt ihr hier eigentlich?
HolteiFühren Sie es uns vor, Monsieur Jardin?
JardinIch bin noch nicht ganz sicher...
HolteiIch bitte Sie, wir sind doch unter uns.
JardinAlso, ich weiß nicht...
MöllerWenn wir Sie doch bitten!
Dornzu Möller  Wir müssen gehen...
MöllerAlso, Monsieur Jardin, was werden Sie uns zeigen?
HolteiDas, was zur Zeit Paris im Sturm erobert. Ein Damentanz, sozusagen...  Zu Jardin  Bitte: und-eins-und-zwei, eins-und-zwei...
Jardin tanzt, Holtei hört auf zu zählen, klatscht den Rhythmus und trällert dazu die Melodie.
MöllerWas ist das?
HolteiDer Cancan.
DornUnd so wird in Paris in aller Öffentlichkeit getanzt?
HolteiFast in aller Öffentlichkeit...
MöllerUnd diese Damen dort tanzen in Röcken?
Holteilacht  Sie haben ein Höschen darunter an.
MöllerDas ist eine Revolution, Herrschaften! Eine zweite französische Revolution!
Jardinhält unvermittelt inne  Wagen Sie nicht, sich lustig zu machen, meine Herren!
MöllerDer Tanz ist gut, wirklich gut...
JardinFühren Sie den Namen der Revolution nicht an unpassender Stelle im Munde! Dazu haben Sie kein Recht, Sie sind noch viel zu jung!
MöllerVerzeihen Sie...
Holteilacht, zu Jardin über Möller  Gib’s ihm, dem Lümmel!
Jardinzu Holtei  Da gibt es überhaupt nichts zu lachen!
HolteiVerzeih mir...
Dornzu Möller  Wir müssen gehen!
MöllerWir müssen laufen!  Er schenkt sich nach und trinkt betont langsam.
HolteiHöre auf Heinrich, Abraham! Er wird weit kommen, glaub’ mir!
DornSchluß jetzt!
HolteiDas glaube ich wirklich, und außerdem: ist das etwa schlecht?
DornDu weißt, daß ich fröhliche Menschen mag, aber der Spaß hat auch Grenzen.
HolteiUnd trotzdem wirst du weit kommen.
DornDu weißt sehr gut, daß mich das nicht interessiert! Mir reicht, was ich bin. Und das ist nicht wenig für mein Alter.
HolteiUnd heute abend wirst du sterben, nicht wahr, eine Zukunft hast du nicht!
Dornzu Möller  Gehen wir!
HolteiIch sehe zum ersten Mal, daß du eine so faltige Stirn hast.
DornDu weißt nur allzu gut, daß ich im Augenblick eine mehr als zweifelhafte Rolle spiele.
HolteiAber du hast dich entschlossen, sie heldenmütig durchzustehen.
DornUnd das werde ich auch! Mag der eine sich auch über mich lustig machen und der andere ein Jauchefaß über meinem Haupt ausleeren – ich werde sie durchhalten! Denn ich weiß, weshalb ich sie auf mich genommen habe! Und auch du weißt, daß es für Richard so am besten ist! Wenn man ihm überhaupt noch helfen kann, dann nur so! Richard tut mir leid! Du weißt es, und ich weiß es, und...
Möller... und ich muß es wissen...
HolteiBist du Heinrich zu Hilfe geeilt, um den Orkan zu besänftigen, wie man so schön sagt?
MöllerNein...
DornJa, er ist gekommen! Denn dir wird das alles kein Kopfzerbrechen mehr bereiten, dort in Paris...  Er trällert ein paar Takte und imitiert die Cancan-Schritte.  Aber wir müssen hierbleiben!
HolteiGerade eben lief noch so einer hier herum wie eine gesengte Sau. Du könntest zusammen mit dem neuen Direktor zu Richard gehen.
DornGenau das werde ich auch tun! Wir werden Richard alles erzählen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen!
HolteiDas willst du auf dich nehmen?
DornSicher. Da brauche ich nichts auf mich zu nehmen, ich werde es einfach tun, denn ich muß es tun. Grins’ nicht so!
HolteiIch freue mich, daß ich die rechte Wahl getroffen habe.
DornGratuliere!
MöllerWas ist denn los mit dir? Ich fahre sofort zurück! Wenn hier wirklich alles koscher wäre, dann würdest du nicht so schreien.
Dornruhig, nach einer Pause  Auf Wiedersehen! Grüß mir Königsberg.
Dorn geht. Pause.
Holteizu Möller  Ei, ei! Es ist wirklich gar nicht einfach. Was habt ihr zwei denn ausgeheckt? Nein, sag’ es nicht! Das ist nicht wichtig, es muß einfach nur getan werden. Heinrich ist ein Prachtkerl, glaub’ mir. Bis heute abend, Abraham!
Möller geht. Pause.
JardinDer Junge tut mir leid...
Holteirasch  Also, packen wir unsere Sachen? Paris wartet auf uns, Alter! – Was hast du?
JardinDu bist... grausam. Der Spaß hat seine Grenzen...
HolteiVerzeih mir. Mir geht es so schlecht...
JardinWarum, Karl, warum?
Unvermittelt umarmt Holtei Jardin. Pause. Richard Wagner tritt ein, bis zu den Augen in einen weißen Schal gehüllt, in der Hand einen kleinen Krug und einen Becher; als er Holtei und Jardin erblickt, verbirgt er beides rasch in den Kulissen. Während er zurückkehrt, befreit sich Jardin ohne Hast aus der Umarmung Holteis.
HolteiGuten Morgen, Herr Wagner.
WagnerGuten Morgen.
Wagner nimmt Pfeife und eine silberne Tabaksdose aus der Tasche und beginnt, betont langsam die Pfeife zu stopfen.
HolteiVerzeihen Sie, ihre...
Er wirft einen vielsagenden Blick auf Wagners Hose. Als dieser bemerkt, daß der Eingrif nicht zugeknöpft ist, dreht er sich um und bringt seine Garderobe in Ordnung. Jardin repetiert langsam den neuen Tanzschritt.
HolteiWarum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie die Blechbläser entlassen haben? Eigentlich sollte der Direktor des Theaters so etwas wissen.
WagnerSind Sie erpicht auf eine der vakanten Stellen? Ich habe noch niemanden verpflichtet.
Holteilacht  Du gehst ein bißchen zu weit, oder?
WagnerZumindest die Musiker unterstehen mir, oder irre ich?
HolteiWas immer du auch sagst, deine Worte sind Musik in meinen Ohren.
WagnerVerzeihung – ich habe zu arbeiten.
Er schleppt sein Pult aus den Kulissen herbei. Jardins Getanze stört Wagner ganz offensichtlich.
HolteiDarf ich Sie und ihre Frau Gemahlin zu einer, wie man so schön sagt, gastlichen Zusammenkunft im trauen Kreise einladen? Heute abend, an dieser Stelle?
WagnerDie Einladung kommt zu spät.
HolteiSchade. Es wird lustig werden.
WagnerDaran wage ich keinen Augenblick lang zu zweifeln.
HolteiFrüher wärst du gekommen.
WagnerFrüher war ich ein Dummkopf.
Holteilacht  Verzeihen Sie, Herr Wagner. Monsieur Jardin, die Probe ist beendet.
Jardin unterbricht seinen Tanz und wendet sich mit Holtei zum Gehen.
WagnerEinen Augenblick noch, Herr Direktor!
HolteiJa, Herr Kapellmeister?
WagnerBereits unzählige Male habe ich Monsieur Jardin gebeten, das Theater oder zumindest die Bühne nicht in diesen Hosen zu betreten. Das ist inakzeptabel, und Sie wissen genau, weshalb!
HolteiMonsieur Jardin, ziehen Sie auf der Stelle diese Hosen aus!
JardinAuf der Stelle... ?
WagnerSchluß damit! Monsieur Jardin, lassen Sie mich bitte mit dem Herrn Direktor allein!
JardinUnd die Hosen nicht ausziehen?
HolteiGehen Sie, gehen Sie.
Jardin ab. Wagner versucht, die Pfeife anzustecken, was ihm jedoch nicht gelingt.
WagnerIch hasse dich, Karl! – So offen hat noch niemand mit dir gesprochen, was?!
HolteiNein.
WagnerUnd ich werde dir auch sagen, warum ich dich hasse!
HolteiIch weiß es.
WagnerDu kannst es nicht wissen...
Holteilacht  Ich weiß es. Bis heute abend.  Ab.
Wagnerruft ihm nach einem Augenblick nach  Ich werde nicht kommen!
Pause. – Wagner knallt energisch die Pfeife auf das Pult, rückt es zurecht und ordnet die durcheinandergeratenen Notenblätter. Plötzlich wirft er einen Blick auf die Taschenuhr und stürzt zu seinen in den Kulissen versteckten Utensilien. Er gießt ein offensichtlich streng bemessenes Quantum aus dem Krug in den Becher und leert ihn mit Widerwillen. Dann fühlt er mit einem Blick auf die Uhr seinen Puls. Schließlich läßt er den Bühnenprospekt wieder herab, der jedoch auf halbem Weg klemmen bleibt.
Wagnerin den Kulissen  Was machen Sie da?! Ich kann Sie sehen, es hat gar keinen Zweck, sich zu verstecken!
Wagner zerrt Karlowitz auf die Bühne, der immer noch seine Posaune in der Hand hat.
WagnerHaben Sie die ganze Zeit da gestanden?
KarlowitzNein, ich bin soeben hereingekommen! Ich schwöre es Ihnen!... Ich werde sofort gehen!... Das heißt, ich werde nicht gehen... Ich weiß, Herr Kapellmeister, ich darf meinen Fuß nicht mehr hierhersetzen, ich weiß. Und ich pflichte Ihnen vollkommen bei. Sie haben tausendfach recht, vollkommen recht. Wir... ich bin dieser Bühne, dieses Saales nicht würdig... Bitte, drücken Sie doch nicht so fest!...
Wagner läßt Karlowitz’ Arm los. Dann fährt er fort, die von Jardin und Holtei weggetragenen Gegenstände zurückzuholen. Karlowitz folgt ihm unablässig.
KarlowitzIch verstehe, daß das hier kein Tanzboden mit Feuerwehrkapelle ist, Herr Kapellmeister, das hier ist Theater, ist wahre Musik, ein heiliger Ort. Glauben Sie mir: ich pflichte Ihnen vollkommen bei! Nur konnte ich Ihnen das nicht mehr sagen, weil Sie uns nicht mehr zu Wort kommen ließen... Aber ich will der wahren Musik näherkommen, das wünsche ich mir von ganzem Herzen, und ich habe den festen Glauben, daß Sie mir helfen werden, daß Sie mir aufzeigen, was ich zu tun habe, und wie... Ich will ein Künstler sein, kein Bläser. Glauben Sie mir, ich kann nicht mehr zurück zu den Feuerwehrleuten, ich halte es nicht mehr aus, dieses...  Er bläst ein paar Marschtakte.
WagnerHören Sie auf!
KarlowitzVerzeihen Sie!
WagnerPacken Sie lieber mit an!
Im Handumdrehen hat Karlowitz sein Instrument abgelegt und macht sich am Flügel zu schaffen. Wagner setzt sich auf dem Klavierhocker zurecht, und Karlowitz schiebt den Flügel in die entsprechende Position. Pause. Wagner klimpert ein paar zufällige Akkorde.
KarlowitzJa, ich begreife, daß ich Ihre Verachtung verdiene... Verzeihen Sie, Herr Kapellmeister.  Er wendet sich zum Gehen.
WagnerSetzen Sie sich.
Karlowitzimpulsiv  Wohin?
WagnerAuf Ihren Daumen!
KarlowitzVerzeihen Sie. Einen Augenblick!
Er eilt hinter die Kulissen, kommt mit einem Stuhl zurück und setzt sich.
WagnerWollen Sie singen?
KarlowitzAch, ich Tölpel!
Er holt rasch sein Instrument, das er hinter den Kulissen gelassen hat, und kommt zurück. Wagner legt ein Notenblatt vor ihm auf den Boden.
WagnerSpielen Sie das.
Karlowitz spielt langsam und mit Mühe die Melodie.
KarlowitzWelch schöne Musik! Ist das von Ihnen?
WagnerNein, vorläufig ist es von Ihnen!
KarlowitzVerzeihung. Ich probiere es nochmal.
Karlowitz reiht die Töne ein wenig geschickter aneinander. Pause. Wagner nimmt den Deckel vom Metronom und läßt es in ziemlich raschem Tempo laufen.
KarlowitzIch kann es versuchen... Nein, ich kann es nicht...
Wagner stellt das Metronom schneller ein.
KarlowitzNein, Herr Kapellmeister, nein!
Wagner stellt das Metronom noch schneller ein.
KarlowitzVielleicht sollte ich ein anderes Instrument nehmen, Herr Kapellmeister, vielleicht schaffe ich es dann?
Wagner stellt das Metronom auf die maximale Geschwindigkeit ein. Karlowitz legt die Posaune ab, steht auf und stürzt davon.
WagnerWo rennen Sie hin?
KarlowitzIch werde es nie schaffen, nie... Adieu!
WagnerMachen Sie keine Faxen.
KarlowitzIch war... ich hatte mich fest entschlossen... ich weiß, es gibt keinen anderen Weg...
Wagner läuft Karlowitz nach.
WagnerKommen Sie zurück!
KarlowitzSie haben recht, dies ist ein Tempel. Ich habe hier nichts zu suchen. Ich bin ein Bläser, mehr nicht. Außerdem habe ich einen kurzen Atem. So lassen Sie mich doch!
WagnerIch will Ihnen doch helfen!
KarlowitzMir ist nicht mehr zu helfen! Lassen Sie mich!
WagnerBitte, gehen Sie! Sie sind so oder so nicht fähig, sich etwas anzutun! Leeres Geschwätz! Sie sind nicht von dieser Sorte!
Karlowitznach einer Pause, entschlossen  Das bin ich wohl. Ich kann es.  Ab.
Nach kurzem Zögern rennt Wagner Karlowitz nach. Von der anderen Seite erscheint von Meck, geht langsam über die Bühne und betrachtet das weiterhin in rasendem Tempo tickende Metronom.
Meckleise  Amalia!... Wagner!...
Er erhält keine Antwort und geht wieder. Wagner kommt mit Karlowitz zurück.
Wagner... wir könnten es in der Tat mit einem anderen Instrument versuchen... Vielleicht mit der Pauke? [...]

1996
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Lettischer Originaltitel: Vâgners neatgriezîsies
Erschienen in Karogs Nr. 5/1996
Frei zur Lettischen Erstaufführung

Die Übersetzung wurde von der Stiftung Kulturkapital (Kultûrkapitâla fonds) gefördert.
© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: 139.538 Zeichen / 78 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 20.543 Zeichen (15%)
Frei zur Deutschen Erstaufführung

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