Vija Gune

Nixenfeuer

Roman

Kaum bin ich aus dem Auto gestiegen, als die Kirchglocke von Silenieki machtvoll zu dröhnen beginnt. Die Kirche selbst ist von hohen Bäumen verdeckt, nur die Turmspitze ragt über den Wipfeln empor, aber die Glocke läutet so klar und voll, daß einem die Ohren klingen. Ich weiß nicht, wem zu Ehren das Geläute anhebt, aber es könnte ebenso gut meinem Abschied gelten. Ausgezeichnet! Ich werde es so interpretieren, denn es ist kaum anzunehmen, daß ich jemals hierher zurückkehren werde. Meinen letzten Schritten auf diesem Boden zu Ehren läutet die Glocke. Wenigstens ein erhebender Augenblick auf dieser wenig erfreulichen Reise.
    Keine Ahnung, ob ich jemals hierhergereist wäre, wenn ich meiner Mutter nicht das Versprechen gegeben hätte (ein mit Nachdruck mir abverlangtes Versprechen), das Grab meines Vaters ausfindig zu machen und zu besuchen. Die Einlösung dieses Versprechens wurde Jahr für Jahr auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, bis ein Brief von Verwandten eintraf. Ein wenig verworren und schwer verständlich, aber mit einem deutlichen Anliegen: sie wünschen rechtmäßige Eigentümer meines Elternhauses zu werden, des ehemaligen Apothekerhauses von Silenieki, auf das sie irgendwelche Ansprüche hätten. Wenigstens auf einen Teil des Hauses. Für mich als direkten Erben wäre es einfacher, die Formalitäten zu erledigen, und diese Leute hielten es für völlig selbstverständlich, daß ich meine Arbeit in Deutschland stehen- und liegenlasse, um hierherzufahren und die Angelegenheit in ihrem Interesse zu regeln. Weshalb sie so überzeugt davon waren, daß ich mich nicht selber für die Erbschaft interessieren würde, ist mir unbegreiflich.
    Ehrlich gesagt, sie interessiert mich tatsächlich nicht, und ich frage mich, was sie mit diesen paar vom Zahn der Zeit angenagten Gebäuden anfangen wollen, da sie doch selber ein ansehnliches Haus am Stadtrand von Jelgava besitzen. Aber das geht mich nichts an.
    Zunächst wollte ich mit einem höflichen, aber ablehnenden Brief antworten – ich hätte weder Zeit noch Lust, mich auf eine Reise in eine mir fremde Gegend zu begeben, um irgendwelche Formalitäten abzuwickeln. Als ich mich an das meiner Mutter gegebene Versprechen erinnerte, überlegte ich es mir anders und entschied, daß es nichts schaden würde, jenes Land kennenzulernen, über das Mutter so viel erzählte. Und so machte ich mich also, von der Vergangenheit angeschoben, auf den Weg nach Lettland, nach Silenieki.
    Dieser bewohnte Flecken in der Ebene von Zemgale erwies sich wie vom Staub des Vergessens bedeckt. Hier begegnen einem überwiegend alte Menschen, man sieht alte Häuser, alte Bäume im Gutspark und alte Kirchen auf den Hügeln. Nur das rotziegelige Gemeindehaus, Anfang des Jahrhunderts gebaut, wirkt frischer. Ein eigenartiger Ort und eigenartige Menschen. Ich fahre bereits seit einer Woche durch die Gegend, habe das halbverfallene Elternhaus in Augenschein genommen, das alte Gutshaus, das Gemeindehaus, habe Menschen kennengelernt, aber ich fühle mich, als würde ich die ganze Zeit wie vor lange verschlossenen Türen auf der Stelle treten – alles ist hier wie eingeschlafen, wie übermoost. Und dann der Vorfall heute morgen... Unangenehm, sich daran zu erinnern, aber ich muß immer wieder daran denken. [...]

*   *   *

Man könnte sagen, der heutige Tag ist so etwas wie mein zweiter Geburtstag. Unter dem Gedicht ist die Jahreszahl gedruckt, 1937, und mein Name – Kârlis Grînbergs. Anfangs wollte ich mit einem Pseudonym zeichnen, mir einen ungewöhnlichen Namen ausdenken, etwas aus der Mythologie herausuchen (beispielsweise Äols oder ähnliches), aber dann würden weder die Kommilitonen noch Elisabeth erfahren, daß ich ein Dichter bin, dessen Verse auch gedruckt werden. Man geht doch nicht zu jedem hin mit der Zeitung und reibt ihm unter die Nase, daß in Wirklichkeit ich es bin, der das Gedicht geschrieben hat.
    Ich möchte nicht für ein Aufschneider gehalten werden, aber es ist angenehm, in der Zeitung unter einem Gedicht seinen Namen gedruckt zu sehen. Dieser ganze Sommer, die ganze Welt hat sich für mich in eine einzige Poesie verwandelt.
    Bleibt zu hoffen, daß auch anderen der Sinn nach poetischer Stimmung steht und sie mein Geisteswerk gelesen haben. Irmchen hat es schon am ersten Tag gelesen und gleich noch einige Zeitungen gekauft, um sie ihren Freundinnen zu schenken. Das freut mich natürlich, aber Irmchen ist meine Schwester, und es ist sozusagen ihre Pflicht, sich über den Erfolg des Bruders zu freuen. Schließlich ist es eine Ehre für die ganze Familie, denn wir sind einander die einzigen Angehörigen, die wir noch haben auf dieser Welt.
    Am wichtigsten ist zu erfahren, ob Elisabeth es gelesen hat, aber wie herausbekommen, ob ja oder nein. Ich könnte zur Apotheke laufen und eine Hustenmixtur kaufen, denn ein Husten quält mich tatsächlich. Besonders nachts. Aber die letzte Flasche ist noch nicht aufgebraucht. Und ohne Grund Geld auszugeben, verbietet das Gewissen – lebe ich hier doch während der Sommerferien auf Irmchens Kosten, und das Lehrergehalt reicht zwar für sie selber, aber für uns beide ist es zu wenig, so daß man sich umschauen müßte, über den Sommer noch eine kleine Beschäftigung zu bekommen oder Privatstunden zu geben, falls zu dieser Jahreszeit überhaupt jemandem der Sinn nach Lernen stehen sollte.
    Einerlei, es muß ein Anlaß gefunden werden, um in die Apotheke zu gehen. Vielleicht braucht Irmchen etwas. Allerdings gibt es keine Garantie, daß ich Elisabeth sehen werde, denn gewöhnlich steht der Apotheker selbst oder aber sein Lehrling hinter dem Ladentisch.
    Die Frau Apothekerin hält sich, wenn sie nicht gerade in einem feinen Kurort weilt, mit den Kindern in der anderen Hälfte des Hauses oder im Garten auf. Falls sie im Garten ist, dann besteht lediglich die Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Zu sehen ist nichts, denn der Zaun ist von dichten Fliederbüschen überwuchert, durch die man weder vom Weg noch von der Allee aus, die zur Apotheke führt, sehen kann. Die Fliederwand reicht bis an die Eingangstüre der Apotheke.
    Dort, an der Türe zur Apotheke, ist im vergangenen Sommer das Wunder geschehen... [...]

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


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Lettischer Originaltitel: Nâruguns
Erstveröffentlichung in Karogs Nr. 9-11/1996
Erschienen in: V.G.: Atpakaïceïð. Nâruguns. Riga: Lauku Avîze, 2000 (Reihe Lata româns)

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Voraussichtlicher Gesamtumfang der Übersetzung: ca. 240 Normseiten
Umfang der Übersetzungsprobe: 6.124 Zeichen (ca. 1,5%)

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