Man könnte sagen, der heutige Tag ist so etwas wie mein zweiter Geburtstag. Unter dem Gedicht ist die Jahreszahl gedruckt, 1937, und mein Name Kârlis Grînbergs. Anfangs wollte ich mit einem Pseudonym zeichnen, mir einen ungewöhnlichen Namen ausdenken, etwas aus der Mythologie herausuchen (beispielsweise Äols oder ähnliches), aber dann würden weder die Kommilitonen noch Elisabeth erfahren, daß ich ein Dichter bin, dessen Verse auch gedruckt werden. Man geht doch nicht zu jedem hin mit der Zeitung und reibt ihm unter die Nase, daß in Wirklichkeit ich es bin, der das Gedicht geschrieben hat.
Ich möchte nicht für ein Aufschneider gehalten werden, aber es ist angenehm, in der Zeitung unter einem Gedicht seinen Namen gedruckt zu sehen. Dieser ganze Sommer, die ganze Welt hat sich für mich in eine einzige Poesie verwandelt.
Bleibt zu hoffen, daß auch anderen der Sinn nach poetischer Stimmung steht und sie mein Geisteswerk gelesen haben. Irmchen hat es schon am ersten Tag gelesen und gleich noch einige Zeitungen gekauft, um sie ihren Freundinnen zu schenken. Das freut mich natürlich, aber Irmchen ist meine Schwester, und es ist sozusagen ihre Pflicht, sich über den Erfolg des Bruders zu freuen. Schließlich ist es eine Ehre für die ganze Familie, denn wir sind einander die einzigen Angehörigen, die wir noch haben auf dieser Welt.
Am wichtigsten ist zu erfahren, ob Elisabeth es gelesen hat, aber wie herausbekommen, ob ja oder nein. Ich könnte zur Apotheke laufen und eine Hustenmixtur kaufen, denn ein Husten quält mich tatsächlich. Besonders nachts. Aber die letzte Flasche ist noch nicht aufgebraucht. Und ohne Grund Geld auszugeben, verbietet das Gewissen lebe ich hier doch während der Sommerferien auf Irmchens Kosten, und das Lehrergehalt reicht zwar für sie selber, aber für uns beide ist es zu wenig, so daß man sich umschauen müßte, über den Sommer noch eine kleine Beschäftigung zu bekommen oder Privatstunden zu geben, falls zu dieser Jahreszeit überhaupt jemandem der Sinn nach Lernen stehen sollte.
Einerlei, es muß ein Anlaß gefunden werden, um in die Apotheke zu gehen. Vielleicht braucht Irmchen etwas. Allerdings gibt es keine Garantie, daß ich Elisabeth sehen werde, denn gewöhnlich steht der Apotheker selbst oder aber sein Lehrling hinter dem Ladentisch.
Die Frau Apothekerin hält sich, wenn sie nicht gerade in einem feinen Kurort weilt, mit den Kindern in der anderen Hälfte des Hauses oder im Garten auf. Falls sie im Garten ist, dann besteht lediglich die Hoffnung, ihre Stimme zu hören. Zu sehen ist nichts, denn der Zaun ist von dichten Fliederbüschen überwuchert, durch die man weder vom Weg noch von der Allee aus, die zur Apotheke führt, sehen kann. Die Fliederwand reicht bis an die Eingangstüre der Apotheke.
Dort, an der Türe zur Apotheke, ist im vergangenen Sommer das Wunder geschehen... [...]