Telegramm von Anatols Imermanis
an Anatols Imermanis

Ergänzt um einen letzten Gruß an die Legende aus Dubulti¹
von Matthias Knoll

 

Schickte mir ein Telegramm:
„Beerdigung gestern.
Bitte keine Blumen.
Trauerreden nur gedruckt.”

Während meines letzten Besuchs bei dem bereits vom Tode gezeichneten Anatols sprachen wir über seine Beerdigung. Wissend um seinen Wunsch, kremiert und als Asche in Jûrmala verstreut zu werden, schlug ich vor, einen Hubschrauber zu mieten, um Anatols über dem Meer auszuschütten, das er so geliebt hat. Aber der alte Pragmatiker wandte ein, dies sei ein teurer Spaß – wir sollten einfach mit dem Auto fahren und ihn unterwegs nach und nach aus dem Fenster kippen. Wir gelangten zu keiner endgültigen Entscheidung und beschlossen, unser Gespräch das nächste Mal fortzusetzen. Wie sich nun zeigt, soll mein nächstes Gespräch mit Anatols dieser mein Mono- bzw. Nekrolog sein.

Als ich zu meinem Begräbnis erschien,
stellte sich heraus, daß ich zu spät gekommen war.

Ihm war kein Gesprächsgegenstand fremd; keine Position, Eigenart oder Grille schien ihm indiskutabel. Ein Weltmann, wahrer Kosmopolit: In Rußland geborener Jude, deutschsprachig aufgewachsen in Liepâja, Absolvent des Englisch-Colleges daselbst, trotzdem nicht nur nebenbei Lette. Schmaucher von Brasil-Zigarren, überzeugter Jûrmalianer, während der letzten Jahre gezwungenermaßen Rigenser, in Wirklichkeit und weiterhin Dubultianer und im Exil. Der ewige Immermann/Everman/Vienmçrvîrs, der sich nicht damit zufrieden geben will, seinen Frieden im „mûþa mâja” zu finden, dem „Heim des Daseins”, wie die Letten Sarg oder Grab umschreiben, sondern auf seinem letzten Gang fliegen will gleich seinem Geist, um als Ascheflocken auf das lebendige Wasser, auf die fruchtbare Erde herniederzuschneien.

Gestern hatte sich schon in morgen verwandelt,
die nicht gebrachten Blumen waren zurückgekehrt in die Erde, …

Als Anatols Imermanis nach Jahren des Siechtums, da er „galîgi slims” („total krank”) war oder sich jedenfalls so fühlte, seinen wachen Geist aushauchte und das zerbrechliche, brüchig gewordene Haus seines Leibes verließ, bewies er zum wiederholten Male seinen Eigensinn, indem er sich haarscharf um den 18. November drückte, seinen 84. Geburtstag, an dem nun entgegen dem p(r)o(ph)etischen Telegramm nicht seine Beerdigung, aber doch die Trauerfeier gestern war; und zwinkerte uns und seinem Sternbildbruder Ojârs² zum letzten Male zu, indem er das irdische Spielfeld just am Freitag, den 13. verließ. Adieu, alter Freund!


die gedruckten Trauerreden jedoch,
zu einem Gedichtband versammelt
und geschmackvoll eingebunden,
längst schon verkauft
mit meinem Autogramm.

Riga, 18. 1. 78 ³




¹ Dubulti: Ortschaft in dem berühmten, ca. 30 km langen Strandgebiet Jûrmala bei Riga. Hier stand eines der für die UdSSR typischen luxuriösen „Schriftstellerheime” mit neungeschossigem Apartementtrakt, Bibliothek, Vortrags- und Speisesaal, Schwimmbad, Massage- und Arztpraxis sowie einer Bar, das jahrelang Imermanis’ Zuhause darstellte, 1992 jedoch in Spekulantenhände geriet und geschlossen wurde
² Ojârs Vâcietis (13. November 1933 – 28. November 1983), einer der bedeutendsten lett. Dichter der Nachkriegszeit
³ Aus: A. Imermanis: „Palete”, S. 14; Riga: Liesma, 1979. Deutsch von M.K.

Die lettische Originalfassung dieses Nachrufs erschien am 19. 11. 98 in Literatûra. Mâksla. Mçs