Im Garten der Visionen des Viesturs Kairiðs

„Serpent” nach Mircea Eliade im Jaunais Rîgas teâtris

Von Guna Zeltiòa

 

Viesturs Kairiðs, Regisseur am JRT, interessiert das Theater nicht als Ausdrucksform des unmittelbaren Lebens, d. h. die Konstruktion realistischer Szenen auf der Grundlage von Fragmenten aus Alltag und Wirklichkeit. Seine Inszenierungen – insbesondere „Tunelis” (Der Tunnel) und „Jaunava Kristîne” (Die Jungfrau Christine) – balancieren fast immer auf der Grenze zwischen Realem und Irrealem. Sie sind Traum, Vision, Unwägbarkeit, eine just neuerschaffene Welt, die sich aus dem Chaos von Materie und Vorstellungen gebiert. Die Aufführung als Reise, als Sichhineinbegeben in das Große Unbekannte gemeinsam mit dem Ensemble, als kollektive, magisch-realistische Séance, die Raum läßt für verschiedene Interpretationen, Deutungen und Erklärungen.

Mit der Inszenierung seiner Adaption des Romans „Der Versucher und die Schlange” folgt Kairiðs bereits zum zweiten Mal den Spuren des rumänischen Philosophen und Schriftstellers Mircea Eliade (1907-1986), der sein halbes Leben in der Emigration verbrachte, seit 1956 Professor für Religionsforschung an der Universität Chicago war und neben seinen bedeutenden wissenschaftlichen Arbeiten auch zahlreiche Romane und Erzählungen verfaßte. Auf der Grundlage seiner Erkenntnisse als Ethnologe, Historiker, Hermeneutiker und Esoteriker entwarf er in seinen Arbeiten ein neues Bild der Weltentwicklung. Seine Sicht der Zivilisationsgeschichte, die den Rhythmen von Aufstieg und Fall unterworfen ist, machte ihn zum Apologeten des Mythos: Im Mythos und der Vorstellung einer zyklischen Ordnung der Welt suchte er einen Ausweg aus den verheerenden Erfahrungen der Historie.

Im zeitgenössischen Theater sind scheinbar nur noch Erinnerungen an den Mythos möglich. Vielleicht entwickelt sich Viesturs Kairiðs zum Apologeten des Irrealen, des Traums und der Vision im lettischen Theater? Jene beinahe unfaßbare, feine Grenze, da Reales und Irreales, Erfahrung und Erinnerung, Traum und Mythos ineinander zerfließen, wird zur Quelle poetischer und visueller Energie in seinen Inszenierungen. Der Zuschauer sieht sich mit ungeheurer Wucht von der Ebene seiner alltäglichen, profanen Wirklichkeit in eine urbildliche, längst versunkene Atmosphäre katapultiert, in der gänzlich andere, vom Willen des Individuums unabhängige Daseinsgesetze ihre Wirksamkeit entfalten. Deren Annehmen und Zulassen stellt für die zersplitterte Persönlichkeit des modernen Menschen einen der möglichen Wege auf der Suche nach innerer Integrität und Harmonie dar.

Die von Ieva Jurjâne (Bühnenbild und Kostüme) eingerichtete Bühne der internationalen Koproduktion „Serpent” ist bis tief in die Seitenkulissen von knallig grünem Laubwerk umrahmt und weckt je nach Ausleuchtung des Prospekts in intensiv leuchtenden Tönen Assoziationen mit einem Garten weltlicher Freuden, dem verlorenen Paradies, einem Urwald geheimnisvoller Erfahrungen und Erkenntnisse etc. Wie seltsame Vögel wirken in diesem Garten bzw. Wald die bunten Protagonisten der Inszenierung, die sich im Landhaus der Familie Solomon versammelt haben: Die Eltern mit ihren Töchtern Dorina und Lisa nebst Schwiegersohn Stere sowie die beiden Gäste Stamate und Hauptmann Manuila – potentielle Heiratskandidaten für die etwas komplizierte, weil träumerische Dorina.

Der Regisseur kümmert sich nicht um die gesellschaftliche oder berufliche Zugehörigkeit seiner Protagonisten, um Klärung der Kausalität des wer, wo und warum. Er provoziert ein offenes Spiel mit profanen Strukturen. Sämtliche Einzelhandlungen – die von Stamate (Ìirts Çcis) gesungene Romanze, die Gespräche innerhalb der Tischgesellschaft, das Reinigen der Zähne nach dem Essen mit einem gemeinsamen, meterlangen Stück Zahnseide, das Servieren des Kaffees, die Anstrengungen Hauptmann Manuilas (Andris Keiðs), Dorina (Sandra Kïaviòa) für sich zu gewinnen und sein feuriger Säbeltanz, Lisas (Kristîne Zadovska) kindlich-kindische Koketterie und Steres (Vigo Roga) Kommentare, das Über-die-Bühne-Wirbeln der alten Solomons (Tamâra Soboïeva und Jânis Zariòð) usw. – sind mit den Maschen ironischer Entfremdung und karikaturistischer Übertreibung gestrickt.

Aber schon bricht die kleine Gesellschaft auf: ihr Weg zum Kloster markiert den Eintritt in einen Bereich neuer Erfahrungen – und den Beginn eines eigentümlichen Initiationsrituals. Es heißt, daß der Weg zum Sakralen oft durch Alltag und Alltägliches führt, wodurch Ereignisse auf spiritueller Ebene initiiert werden. Andronic (Ìirts Krûmiòð), dem die Gruppe auf diesem Weg begegnet, verkörpert sowohl den weisen als auch den unbewußten und bedrohlichen Teil der menschlichen Natur, der plötzlich und dramatisch in das alltägliche Dasein des Menschen einbricht. Die Initiation geschieht durch ein Spiel, zu dem Andronic die sieben Ausflügler auffordert, ein Spiel, das sie mit einem urwüchsigen Wald konfrontiert, unterdrückte Triebe und Wünsche freilegt, die Lebenskräfte und -säfte entfesselt und zum Zirkulieren bringt – und den Einzelnen sich als Teil des großen kosmischen Getriebes empfinden läßt.

Ein wesentliches Prinzip in Viesturs Kairiðs’ Regiearbeit ist das Prinzip des Unerwarteten. Es ist unmöglich abzusehen, was im nächsten Augenblick auf der Bühne geschehen wird. Der Wald verwandelt sich in einen Mysterienort, wo sich der Lauf der Protagonisten durch ihr Leben zyklisch wiederholt, ein Durchschreiten verschiedener Phasen des Initiationsrituals. Mönche in Umhängen und Masken erscheinen, geistliche a capella-Gesänge ertönen, und Andronic wird zum Mittler zwischen den Rätseln der Vergangenheit bzw. der Unterwelt (des Klosters) und dem Bewußtsein des Menschen der Gegenwart. In den Bodenöffnungen der schräg ansteigenden Bühne erscheinen und verschwinden Menschen – wie in geheimnisvollen unterirdischen Höhlen, in den gierigen Schlünden des Daseins oder den Gefäßen einer gemeinschaftlichen Erfahrung.

Der Wald füllt sich mit sonderbaren Geräuschen und Klängen, mit der Musik von Arturs Maskats, die mit der mysteriösen Atmosphäre der Inszenierung auf ideale Weise korrespondiert, mit dem Atmen, Hecheln und Ächzen der Läufer, den Bewegungen, dem Suchen, der Unrast eines ewig währenden Amoklaufs. Mit Enthusiasmus tauchen die Protagonisten, nachdem sie ihre anfängliche Unsicherheit überwunden haben, in den grünen Wald wie in einen rettenden und läuternden Strom der Natur – in der Hoffnung, dort eine Lösung für das Große Rätsel ihres Daseins zu entdecken. Ob sie fündig werden? Vorläufig hält uns der Regisseur im Ungewissen.

Im Wald tobt das faunische, dionysische Element, es sorgt für ein ununterbrochenes Rotieren der Lebenskräfte und provoziert unerwartete Begegnungen, unverhoffte Nähe. Diesem Element schmiegt sich das Prinzip ewiger Bewegung, Fluktuation und Entwicklung an, verkörpert durch Andronic. Das Erscheinen seines Doppelgängers, eines recht schauerlichen Schlangenmenschen, und Andronics Vermögen, die Bedrohung abzuwenden, indem er auf einer anderen biokosmischen Ebene aktiv wird und sich als freie, schöpferische Persönlichkeit erweist – dies ist eine der Versionen für die Wechselwirkung und Parallelität des Realen und Irrealen.

Die Annäherung zwischen Andronic und Dorina, deren Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit durch das weiße Brautkleid im letzten Drittel des Stücks unterstrichen wird, ist unausweichlich: Ihre unklare Ahnungen, Sehnsüchte und Projektionen von Erinnerungen haben sich materialisiert, im Laufe der Initiation ist alles Profane von ihr abgefallen – Dorina ist zu ihrem spirituellen Urgrund zurückgekehrt, zur Natur, zu einem Menschen, der ebenfalls wiedergekehrt ist und geläutert. Dorinas und Andronics Begegnung ist die poetische Apotheose der Inszenierung – rein, ungekünstelt, sinnerfüllt. Eine Vision der Rückkehr ins verlorene Paradies, die auch in Maskats’ kristallklarer, schmerzerfüllter Musik anklingt. Jedoch nur eine Vision, denn Kairiðs läßt seine Inszenierung mit einem Akzent gesunden Humors enden.

Der Versuch zu klären, wer Andronic oder einer der anderen Protagonisten „in Wirklichkeit” ist, scheint meiner Ansicht nach ein vergebliches Unterfangen zu sein. „Serpent” bietet ein vielschichtiges, dabei offenes System von Figuren, Zeichen und Symbolen an, das ein jeder, abhängig von der Ebene seiner Erfahrungen und Interessen, unterschiedlich deuten kann.

Der eine wird die Figur der Schlange als chtonisches Wesen interpretieren, als Hüter des Heiligtums, des unterirdischen Reichs und der Weisheit, der andere als ein Symbol seelischer Inkarnation, der Libido und Fruchtbarkeit oder der Ewigkeit bzw. ewiger Bewegung. Wieder ein anderer kann sie mit den Kräften stetiger Erneuerung und der Materialisierung kosmischer Energie in Verbindung bringen, ein weiterer sieht in ihr ein universales, sowohl lunares als auch solares Symbol, zugleich Verkörperung von Gut und Böse, von Tod bzw. Vernichtung und Leben, von Weisheit und blinder Leidenschaft.

Der eine wird auf der Gestaltebene der Inszenierung vielleicht die Nachthimmelschlange der alten Azteken erkennen oder ihr Gegenstück, die türkisfarbene Taghimmelschlange; der andere assoziert mit der Schlange den Regenbogen, die Brücke zwischen Erde und Himmel. Mancher mag an die Uräus-Kobra erinnert werden, deren stilisierte Darstellung an der Krone der Herrscher des alten Ägypten befestigt war, mancher an den Ouroboros, der sich in den Schwanz beißt und so die kreisförmige Unendlichkeit verkörpert. Oder an die Kundalini-Schlange als Sitz der kosmischen Energie im menschlichen Körper um unteren Ende der Wirbelsäule.

Aber vielleicht ist die Schlange von Eliade und Kairiðs unsere ureigene und längst vergessene, in tieferen Schichten des Bewußtseins verborgene Erfahrung, die in uns die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies erweckt, wo die Schlange einst den Baum der Erkenntnis hütete. Jedenfalls eint das Ensemble des JRT die Begeisterung für die gemeinsame Suche nach einer versunkenen, wesentlichen Dimension. Die Poesie des von Ieva Jurjâne geschaffenen Bühnenraums unterstützt diese Suche, indem sie nostalgische Visionen einer Zeit erweckt, als die Menschheit ihre geistige Unschuld noch nicht verloren hatte. Eine Zeit in Grün, der Farbe der Hoffnung.

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll




Originaltitel: Viestura Kairiða vîziju darzâ
erschienen in: Mâksla plus Nr. 1/2000, S. 32/33

Gesamtumfang der Übersetzung:
10 204 Zeichen (5,7 Normseiten), publikationsfertig

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