Laima Muktupâvela

Rosen für Feklenia

Ein Bericht nach langem Schweigen

3. Geschichte aus dem „Dutzend wahrer Geschichten aus dem Leben”:
„Der Schwarze Tag” [14. Juni 1941]

Rings umher herrschte Grabesstille. Vollkommen möglich, daß im Grab just eine solche Stille waltet wie an jenem Tag im alten Archivgebäude – zumindest in dem Raum, wo Otto saß. Sorgfältig abgeheftet in dicken Ordnern und Pappmappen, lagen die Dokumente auf ordentlichen Stapeln. Beim Umblättern raschelte das Papier geheimnisvoll, und Otto stellte sich tatsächlich vor, daß ein solches Geräusch im Grab zu hören sein könnte, wenn die Stille von den Würmern, diesen Leichennagern, und von der Zeit gestört wird.
      Dennoch roch es im Archiv nicht nach Alter, nach Kraftlosigkeit und Zerfall, nach endlosen Qualen und Not, nach dem Tod als Erlöser. Es stank nicht nach dem brackigen Wasser abgestandener Geschichte, sondern nach etwas irritierend Lebendigem. Otto konnte keine Erklärung dafür finden, obgleich er bereits seit vielen Jahren seiner Beschäftigung als Archivar nachging, gewissenhaft Akten durchblätterte und beim Auftreten größerer Staubwolken herzhaft nieste.
      Die Abteilung, in der Otto arbeitete, war mit den besten und zuvorkommensten Kolleginnen gesegnet, die einen benötigten Rat jederzeit wie auf dem Tablett servierten, stets hilfreich zur Hand waren, bis zum Zahltag mit dem einen oder anderen Lat aushalfen und überhaupt – von solchen Arbeitskollegen kann ein jeder nur träumen. Wenn man ihn bitten würde, könnte Otto vieles über die guten Eigenschaften seiner Kolleginnen erzählen; aber nichtsdestotrotz, wie soll man sagen – fühlte Otto, daß die Frau seiner Träume vollkommen anders beschaffen war als diejenigen, die ihn Tag für Tag umgaben.
      Otto ging häufig in den Keller hinunter, wo die Reisepässe aus der Zeit der Ersten Lettischen Republik aufbewahrt wurden. Otto war sich nicht ganz sicher, ob diese Kellerbesuche eigentlich gestattet waren, aber während der vergangenen Jahre hatte es ihm niemand untersagt. Da sieht man einmal, wie sich die Zeiten geändert hatten, denn es gab eine gewisse Epoche, da die Pässe der souveränen Republik Lettland mit dem goldenen Leu und dem silbernen Greif unter den drei Sternen unter strengem Verschluß gestanden haben. Ein kleiner Archivar, der nichts weiter als ein Universitätsdiplom vorzuweisen hat, wurde da ganz einfach nicht hineingelassen. Daran war überhaupt nicht zu denken. Jetzt, da jeder Bürger einen Paß des wiederhergestellten Staates in der Tasche hatte, war der Bestand frei zugänglich. Man brauchte nur um den Schlüssel bitten.
      Die ersten, die Otto hier entdeckt hatte, waren seine Großeltern. Beide jung, beide gemeinsam in einem Paß. Später fand er auch die Reisedokumente anderer Verwandter. Seine Tanten: allesamt jung, mit offenen, fröhlichen Gesichtern und Sonne in den Augen. Und strahlend vor Glück.
      Als die Verwandtschaft gefunden, wiedererkannt und in Augenschein genommen war, machte Otto sich an die Prominenz. Lange war ihm selber nicht klar, was ihn an den Pässen so sehr faszinierte und immer wieder in den Keller hinuntergehen, Schublade um Schublade öffnen, die Pässe aufschlagen und ein jedes Gesicht betrachten ließ. Das erste, worauf sein Blick fiel, waren die Hüte der Damen. Hüte mit Bändern und Blüten, mit Füttelchen und Tüttelchen, mit Rüschchen und Knöpfchen. Hüte mit ausladenden Krempen oder solche, die Kochsmützen ähnelten. Hüte mit feinen Schleiern und schimmernden Perlen, Hüte so flach wie Dessertschalen und andere so hoch wie der Biskuitkuchen, den seine Mutter stets zum Friedhofsfest buk.
      Otto nahm Paß für Paß aus den Archivkästen, betrachtete die Gesichter und versuchte zu enträtseln, was diesen Frauen aus einer vergangenen Epoche eine so erhabene, so ernste und letztendlich tugendhafte Schönheit verlieh. Ihn erfaßten Empfindungen – nein, Mannesgier niemals –, die er mit rationalem Verstand nicht fassen konnte.
      Heute war Otto hergekommen, um den Paß seiner Großtante Agathe herauszusuchen. Voll Behagen ging er die numerierten Umschläge durch, las die Namen und murmelte sie leise vor sich hin: Kabata, Ilga ... nein, weiter hinten ... Kadîriíe, Gudruna – sieh an, was für schöne Namen es gibt ... Kaidarceva, Feklenia – ha, was für ein Name! Feklenia! Fjokluschka ... ah, da haben wir sie ja. Agathe und Maria, voil?.
      Zufrieden wedelte er mit dem Paß in der Luft und setzte sich an das kleine Tischchen, um ein Auftragsformular zum Reproduzieren auszufüllen. Die Wiederbegegnung mit ihrer Jugend wird bestimmt eine freudige Überraschung für die alte Dame sein. Otto schlug den Paß auf und betrachtete wohlgefällig Tante Agathes mädchenhaftes Antlitz. Damals war sie noch Studentin und reiste mit ihrer Schwester Maria – Ottos Großmutter – nach Frankreich. Unterwegs haben sie ihre Freundin Elvira und deren Mann besucht, einen Maler. Wie hieß er doch gleich? Otto dachte nach. Robert, Rudolf, Felix? Feli... Fjokluschka...
      Wie diese Fjokla, sicher doch eine Russin, wohl ausgesehen hat? Seine Hand hielt beim Schreiben inne, dann erhob er sich entschlossen und trat an den Archivschrank. Schnell hatte er den Umschlag gefunden. Kaidarceva, Feklenia. Als er den Paß aufschlug, erstarrte er für einen Augenblick. Von der Fotografie blickte ihn, halb von dem großen, breitkrempigen Hut verborgen, vorsichtig, aufmerksam und, wie es Otto scheinen wollte, sehr abschätzend ein großes, trauriges Auge an.
      Na, das war ja ein Bild! Otto blätterte in dem Dokument und las: „Kaidarceva, Feklenia Prochorewna, geb. am 10. Dezember 1905. Volksangehörigkeit: russisch. Religion: altgläubig. Beruf: ?”
      Unglaublich! In der Rubrik „Beruf” stand weder Hausfrau noch Lehrerin oder Schauspielerin oder sonst irgend etwas. Sondern nichts als ein dickes Fragezeichen. Das war etwas unerwartetes im Berufsalltag eines Beamten zu Friedenszeiten.
      Zögernd drehte und wendete Otto den Paß in seiner Hand und spürte, daß er alles über diese Frau zu erfahren begehrte. Ja, ganz recht: begehrte, und davon war er selber überrascht.
      Frauen gegenüber pflegte er sich respektvoll und reserviert, ja sogar distanziert zu verhalten. Während sich seine Augen an dem halbverschatteten Gesicht der Fremden festsogen, überkam Otto eine lähmende, schwere Mattigkeit. Es durchfuhr ihn heiß. Seine Gedanken nahmen der Fremden den großen Hut ab, wühlten sich in ihr Haar, knöpften die nach Lavendel duftende Seidenbluse auf und rissen alles fort, was daran hinderte, den Leib der Frau in Besitz zu nehmen.
      Otto klemmte sich Pässe und Formulare unter den Arm und hastete verwirrt die breite Treppe in den fünften Stock hinauf, wo die Inlandspässe aufbewahrt wurden. Diese Abteilung war nie verschlossen. Hier konnte man über einen Menschen alles erfahren. Wo er wohnte und arbeitete, wann er geheiratet und was er bei den Behörden ausgefressen hatte... Hier wurde einem für gewöhnlich der kleine Finger eines Menschen gereicht, der nicht nur seine ganze Hand offenlegte, sondern sein gesamtes Dasein.
      Otto hangelte sich die Regale empor und fischte den Umschlag zu der gesuchten Person aus einer Pappschachtel. Ein Inlandspaß war nicht darin, sondern nur das Protokoll eines Polizeireviers, in dem es hieß, daß „Kaidarceva, Feklenia, Prostituierte, Analphatetin, gezwungen war, wegen des Verlusts ihrer Papiere bei der Paßbehörde vorstellig zu werden und einen Antrag auf einen neuen Personalausweis zu stellen.” Auf der Abschrift der Dokumente hatte Feklenia mit drei Kreuzen unterzeichnet...
      
„Du bist aber blaß!” bemerkte einer seiner netten Kolleginnen mütterlich und reichte ihm eine Tasse Kaffee. „Hast Du Dich vielleicht erkältet? Es ist immer so kühl hier im Archiv...”
      Als Otto die Repros der Paßfotos aus dem Labor bekommen hatte, steckte er sie in einen rosafarbenen Umschlag, kaufte einen Strauß weiße Rosen und machte sich auf den Weg zum Haus der Jubilarin.
      Pane Agathe, wie sie von allen ehrerbietig genannt wurde, lächelte stets ein leises Lächeln und pflegte mit ihrem Großneffen über alles mögliche zu plaudern – über die Schule und später das Studium, über Literatur und Politik, über ihre Reisen nach Frankreich, das Land der erfüllten Träume ihrer Jugend. Sie sprach über die neuesten Trends im Gartendesign oder über die Traditionen der Mittelmeerküche und brachte Otto unauffällig gute Manieren bei, sowohl bei Tisch als auch im Umgang mit Frauen. Niemals jedoch sprach sie über die Deportation und das Leben in Sibirien. Oder nur sehr ausweichend. Eben wie alle, die von dort zurückgekehrt waren.
      Die bereits versammelten Verwandten und Freunde begrüßten den Neuankömmling, und Pane Agathe bedankte sich herzlich für das Geschenk und die Blumen. Eine Träne der Rührung und Überraschung rollte über ihre weiche, runzlige Wange, aber da sie eine echte Dame war, nahm sie sich zusammen.
      Die Gäste fanden liebevolle Worte über die Vergrößerung des Paßbildes aus Agathes Jugendtagen. Eigentlich hatte sie sich ja überhaupt nicht verändert. Nur das Gold ihres Haars hatte sich in Silber verwandelt. [...]

1995
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Lettischer Originaltitel: Melnâ diena. Rozes Feklçnijai. Klusçtâjas pastâsts
Erschienen in: [Patiesu dzîvesstâstu] Ducis [Rîga: Daugava, 2002], S. 35-52

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: 21.281 Zeichen / 12 Normseiten, publikationsfertig
Umfang der Leseprobe: 9.098 Zeichen (43%)

www.literatur.lv