Die erste, in früher Jugend geschriebene Fassung des Romans verbrannten meine Angehörigen. Aufgrund der zweiten Fassung wurde ich verurteilt. Die dritte Fassung, entstanden im Durchgangslager, wurde bei einer Durchsuchung beschlagnahmt. Die vierte haben Mäuse zernagt. Das Material für die hier vorliegende fünfte Fassung wurde im Laufe von fünfundvierzig Jahren zusammengetragen.
Eine Reihe bewaffneter Leute verteilt sich am gebüschbewachsenen Straßenrand. Der eine hat ein Gewehr in der Hand, der andere eine Jagdbüchse, mancher eine Maschinenpistole. Nicht nur die Bewaffnung, sondern auch die Kleidung der Männer ist überaus verschieden sowohl die khakifarbenen Feldröcke der alten lettischen als auch die blaugrauen der deutschen Armee, aber auch braune aus handgewebtem Tuch. Verblichen und abgetragen in den langen Jahren der Waldbruderschaft. Die Männer haben sich unter das Buschwerk am Waldrand gelegt und beobachten die Straße. Nach einer Weile ertönt aus der Richtung von Riga Motorengebrumm, in der Wegbiegung taucht ein grüner Geländewagen auf und jagt vorüber. Ein paar hundert Meter weiter bleibt der Wagen an einem Pfad, der in den Wald führt, stehen, drei Angehörige der Sowjetarmee steigen aus, stecken die Köpfe zusammen und beraten sich. Die im Gebüsch kauernden Männer jedoch beobachten weiterhin die Straße, bereit zum Angriff, falls Lastwagen mit Soldaten auftauchen sollten. Falls der im toten Briefkasten im Wald gefundene Brief eine Falle war. Dennoch bleibt die Straße vorerst still. Die Ankömmlinge lassen ihr Fahrzeug zurück und wenden sich waldeinwärts. Nach einigen Minuten mündet der Pfad in eine Lichtung. Der in der Mitte Gehende entrollt eine an einem kurzen Stiel befestigte weiße Fahne und hebt sie über sein Haupt. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung taucht ein kleingewachsener Mann in der Uniform der alten Armee und Pasteln auf und kommt ihnen entgegen. In der Mitte der Lichtung treffen sie sich. Derjenige, der die Fahne trägt, betrachtet sein Gegenüber von Kopf bis Fuß, und auf sein Gesicht verrät deutlich Verwunderung.
Bandenführer Straume? fragt er und blickt in Richtung Wald, als würde er noch jemanden erwarten.
Straume in der Tat, allerdings nicht Bandit, sondern Hauptmann der Lettischen Armee, Major.
Der Major wirft einen raschen Blick auf Straumes Pasteln.
Gemordet hast du nicht, das wissen wir, deshalb sind wir auch hergekommen. Sieht so aus, als ob das Leben im Wald kein Zuckerschlecken ist. Der Krieg ist seit ein paar Jahren vorbei, also hast du auch nichts zu erhoffen. Lohnt es sich, hier halbverhungert und erfroren dahinzuvegetieren? Komm heraus aus dem Wald, Hauptmann! Du wirst nicht verurteilt, du kannst leben und arbeiten. Ich gebe dir mein Wort als Soldat.
Ich kann meine Männer nicht im Stich lassen.
Dann sollen deine Männer auch aus dem Wald herauskommen. Scheinbar hast du einen ganzen Zug. Ihr alle könnt leben und arbeiten.
Bevor ich eine Antwort gebe, möchte ich erfahren, was mit den aus Litene verschleppten Offizieren geschehen ist.
Die drei Unterhändler wechseln Blicke und schütteln den Kopf.
Wir wissen es nicht, von denen haben wir nichts gehört.
Dann verhält es sich so: Wenn Sie noch einmal hierherkommen und uns sagen können, daß die Offiziere von Litene leben und arbeiten, dann verlassen wir alle, meine Männer und ich, den Wald.
Aber die Unterhändler kamen kein zweites Mal, und wenige Monate später fiel Hauptmann Straume in diesem kurländischen Wald im Kampf gegen Sicherheitsleute und Säuberungskommandos.
[...]
Die Exhumierung
Im Wald eine längliche, rispengrasüberwachsene Fläche von einigen Schritt Breite. Ein Soldatengrab, sagt jemand, da sind die Offiziere von Litene begraben. Nameda hat eine Schippe in der Hand und sich einen Sack unter den Arm geklemmt. Sie ist hergekommen, um Hauptmann Sondors abzuholen. Um ihn auszugraben und nach Hause zu bringen. Sie werden ihn nicht finden es ist eine lange Zeit vergangen, und sie sind einander alle gleich geworden, behauptet der Unsichtbare. Ich werde ihn an den Zahnkronen erkennen, sagt Nameda. Er hatte ein paar silberne Kronen, denn für goldene reichte das Geld nicht. Er hat gebaut damals. Die Schippe sticht in das Gras. Von einer, einer anderen, einer dritten Seite. Sticht, hebt, sticht, hebt, stößt gegen etwas hartes. Sie hat Glück und die richtige Stelle getroffen. Der Schädel schimmert weiß, sie reibt mit den Fingern den Sand ab, eine Silberkrone blitzt auf. Plötzlich zieht sich die Erdschicht wie eine Schublade zurück, und eine zerlumpte Gestalt erhebt sich. Nun hat sie auch ein Gesicht, und Nameda erkennt Hauptmann Sondors.
Du hättest mich nicht suchen sollen, sagt er. Von einem Ende der Fläche bis zum anderen öffnen sich nacheinander die Erdschubladen, und aus jeder steigt eine graue Lumpengestalt. Sie versammeln sich um Nameda, nehmen sie in ihre Mitte und führen sie irgendwo hin. Sie gelangen in eine Felshöhle, ähnlich der Gutmanis-Höhle, nur ist sie tiefer, und es gibt in ihr keinen Bach. Überall ringsum wehen graue Fetzen.
Wir wollen tanzen, wir hatten im Leben nur so selten die Gelegenheit zu tanzen. Wenn es Musik gäbe, würde es gehen.
Es sind junge Leutnants, sagt Sondors, sie sind im selben Jahr gestorben wie ich. Damals herrschte schrecklicher Hunger.
Einer der zerlumpten Männer serviert Nameda zwei mit Wein gefüllte Gläser auf einem Tablett.
Stoßen Sie mit mir an, Mädel, Sie sind die erste und einzige, die zu uns gekommen ist.
Sie nimmt ein Glas, zögert jedoch zu trinken. Hilfesuchend wendet sie sich ihrem Ziehvater zu.
Er ist auch einer von den jungen Leutnants, sagt Anatolijs, ein überaus anständiger Mensch.
Stoßen Sie mit mir an, Mädel, und dann tanzen wir.
Ich darf nicht, Sie sind tot.
Jemand wälzt sich auf Nameda. Ihre Nachbarin hat sich im Schlaf quergelegt. Sie liegen auf der oberen Pritsche. In der Zelle des Durchgangslagers herrscht trübes Licht, denn die Glühlampe über der Tür ist verstaubt.
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
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Anita Liepa: Exhumâcija. Dokumentâls româns
480 S. | Rîga: Liesma, 1990
© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: ca. 600 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 5.600 Zeichen / 3 Normseiten (ca. 0,5 %)
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