Andra Neiburga
Euridice. Provinz
Erzählung
Göttlicher Amor, der Liebe Leiden
Sind aller Wonnen Seligkeit.
Gluck: Orpheus und Eurydike
Viele bezeichneten sie als schön auf gewisse Weise schön, auf eine eigene Weise schön. Dabei klang auf eine eigene Weise wie eine Entschuldigung oder Rechtfertigung.
Ihr Körper, auf der Bühne konturiert, war im wirklichen Leben zu groß für alles: für den Barhocker, den Kinosessel, zu groß für die Zimmertür, deren Füllungen sie immer ungeschickt rammte, zu groß für die schmalen Gänge zwischen den Tischchen im Café. Zu groß für den Spiegel in der Schranktür, in den sie nur noch ungern einen Blick warf. Aber hineinsehen mußte sie doch. Und überall diesen Doppelzentner Fleisch und Knochen mitschleppen, aus dem Gott großzügig ihren grandiosen, knapp zwei Meter langen Körper geformt hatte.
Schauspielerin, Provinzberühmtheit. In einem kleinen Küstenstädtchen, das jedes Jahr für drei Monate zum Leben erwacht wenn die Urlauber kommen. Wenn sich die Strandhotels mit Gästen füllen, auf den Terrassen die Geige ertönt und das Akkordeon jault und die DJs, bunt wie exotische Papageien, in den Nachtclubs Musik auflegen, die irgendwo in tausend Kilometern Entfernung geschrieben wurde. Wenn die Theatersaison zuende ist und in den Kinos Filme mit Tom Cruise und Julia Roberts gezeigt werden, wenn sich die einzige Fußgängerzone mit allzu süßlich duftenden, in Weiß gewandeten Damen füllt, die mit ihrem billigen Schmuck klimpern und so tun, als hätten sie sich wegen der milden Verträglichkeit der nordischen Sonne für diesen Kurort entschieden und nicht deshalb, weil sie die besseren Kurorte in wärmeren Ländern, wo sich jene Zugvögel in Schwärmen niederlassen, die Gold im Schnabel haben, nicht bezahlen können.
Hier ist alles klein.
Alles außer Euridice.
An der Küste desselben Meeres, weit im Osten und weit im Westen, gibt es andere Städte, die in Licht und Lärm versinken, wo das Leben weder im Winter noch im Sommer, weder tags noch nachts zum Erliegen kommt; Städte mit ihren eigenen Theatern und ihren eigenen Stars. Aber der Traum von ihnen verblaßte.
Euridice ist traurig. Die Traurigkeit ist der Grundzustand ihrer Seele.
Traurigkeit darüber, wie zerbrechlich alles ist in dieser Welt.
Alles außer Euridice.
Heute ist Euridices Jubiläum. Dreißig Jahre am Theater.
Das Theater wurde während dieser Jahre zweimal renoviert, Euridice kein einziges Mal.
Sie und das Theater passen zueinander. Der Duft staubiger Samtvorhänge und Euridices Puder, der Schweißgeruch unter den vergilbten Achseln königlicher Brokatkleider, die knarrenden Bühnenbretter und der schleimige Raucherhusten, der Euridices gewaltige Brüste von Zeit zu Zeit erbeben läßt und ihre Stimme so sinnlich sinnlich sinnlich tief macht.
Anderswo auf der Welt kämpften andere, mit Ruhm und Geld bedachte Stars mit allen nur möglichen Mitteln gegen das Alter. Der Kampf gegen Cellulitehintern und Hängebrüste lenkte von den Gedanken an den Tod ab. Wie Bioroboter blickten Euridices erfolgreiche Schwestern sie mit jungfräulich schimmernden Augen von den Covern der Zeitschriften an. Euridice war weder traurig noch neidisch, fragte sich aber manchmal, in welchem künstlichen Körperteil, unter welchem Implantat die alten und müden Seelen dieser Frauen eingenäht und kaschiert sind.
Euridice war in einem Kinderheim aufgewachsen, weit weg vom Meer, im Landesinneren des kleinen Staates, und niemals erfuhr sie, wer auf die Idee gekommen war, ihr diesen fremdartigen, mythologischen Namen zu geben. Einen Orpheus beispielsweise gab es im Kinderheim nicht. Es gab auch keine Phädra oder Penelope, sondern nur Jânis, Alexei, Ilze oder Dace. Und zwar mehrfach.
In der Realschulzeit war sie eine große graue Maus. Eine Tanzbodenrandsteherin, die Handtaschenhüterin ihrer Freundinnen. Immer lächelnd, während sie die Tränen runterschluckte. Trägerin des Rote-Ohren-Ordens. Die Spiegelkugel im ländlichen Kulturhaus drehte sich langsam und brach die Lichtkegel der Scheinwefer, als Euridice sich im Alter von sechzehn Jahren in einer dunklen Ecke des Tanzsaales zum ersten Mal roten, vom Dauersuff heißen Händen hingab. Da passierte noch irgend etwas, das aufregend und eklig zugleich war. Verschwitzt und ungeschickt suchte sie danach im Staub unter den Klappsesseln die Handtasche ihrer Freundin. Erfolglos. Die Freundin kochte vor Wut, aber dennoch war Euridice in seltsam gehobener und glücklicher Stimmung. Zwei Monate später verschwand sie aus der Schule, ließ in der Kreisstadt eine Abtreibung machen und schloß sich in der Hauptstadt einer Amateurtheatergruppe an.
Dort hörte sie zum ersten Mal Glucks berühmte Oper Orpheus und Eurydike, und sie sollte sich niemals mehr von dieser Musik trennen. Ein Regal in ihrer Wohnung war vollgestopft mit Opernaufnahmen mit verschiedenen Interpreten und in verschiedenen Interpretationen.
Euridice Maksimova.
Als sie anfing, am Theater zu arbeiten, legte sie ihren Nachnamen ab und wurde schlicht Euridice.
In ihrem bisherigen Leben war sie keinem einzigen Orpheus begegnet.
Die eitlen, konturierten, durchtrainierten Jungs mit ihren knackigen Ärschen und gepflegten Händen interessierten sich nicht für das junge, große, zweifellos begabte, jedoch etwas bauernhaft wirkende Mädel weder diejenigen in der Theatergruppe noch später diejenigen des kleinen Provinztheaters.
Trotzdem kam sie während der Ausbildung zufällig zu einem Kind. Ein One-Night-Stand aus dem Parallelkurs hinterließ es ihr als Andenken an eine kurze, unerfüllte und etwas beschämende Nacht. Diesmal trieb sie nicht ab. Lange her.
Sie begann den Männern plötzlich zu gefallen, als sie ihre wahre Reife erlangte, bereits nahe an den Vierzigern. Sie blühte prachtvoll auf wie eine Chrysantheme, warf die tiefverwurzelten Vorstellungen darüber, wie man sich anzuziehen hat, um imaginäre Mängel zu verbergen, über Bord, fing an, sich auffällig zu schminken und gestattete sich Freizügigkeit in Worten und Gedanken. Ja, und auch in Taten. Es war die Zeit ihrer größten Rollen am Theater. Auch im Leben hatte sie ihre Nebenrolle fertiggespielt und übernahm nun die Hauptrolle.
Ihre Männer waren größtenteils von kleinem Wuchs, von Mißerfolgen und ihren Frauen gebeutelt, wurden übersehen und übergangen und hatten Probleme mit der Potenz. Und immer waren sie jünger als Euridice. Sie weinten sich an ihrem mütterlichen Busen aus, vergruben sich in ihr wie Fische im Flußbettschlick und wollten, daß man sie tröstet. Und Euridice tröstete. Sie päppelte ihr männliches Selbsbewußtsein auf, indem sie ihnen einredete, daß ihre Störungen nur psychosomatischer Art seien, und half ihnen mit künstlerischer Inspiration, angeborener Leidenschaft und ausgefeilter Technik, diese zu überwinden.
Psychisch und physisch wiederhergestellt, verließen sie Euridice.
Nur die Traurigkeit verließ Euridice nie.
Schau doch nicht so, hatten viele von ihnen sie gebeten. Aber Euridice schwieg und schaute, und der Ausdruck ihrer riesigen, schwarz umschatteten, animalisch traurigen Augen stieß die Männer ab und zog sie gleichzeitig an.
Euridice schaute und liebte sie alle. Sie liebte, tröstete, verspeiste und verdaute sie und spie sie danach wieder aus. Aber auch nach dem Ausspeien fuhr sie lange, sehr lange fort, sie zu lieben.
Euridice erhob sich wogenden Fleisches vom Frühstückstisch und begab sich zum Telefon. [...]
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
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