Pçteris Pçtersons
Kein einziges Wort
Ein Gleichnis in dreizehn Bildern
Die Aufführungsrechte liegen beim Kaiserverlag (Wien)
Personen:
Vater
Mutter
Talav, deren ältester Sohn
Vidurg, deren mittlerer Sohn
Gedert, deren jüngster Sohn
Sabine
Celia
Axberg
Exstreit
Ixten
Oxmann
Uxtin
der Fährmann
der Chor der Erstarrten Gesichter:
der Unzufriedene
der Unabfindbare
Herr Käsig
Frau Frömmel
Unterlippe
Beatrice
Gerania
ein Mädchen
u. a.
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1.
Gedert; nicht weit von ihm, kaum zu bemerken, der Fährmann, der eine Binde vor den Augen trägt und von Zeit zu Zeit ein Streichinstrument rührt, das mit leisem Klirren ertönt.
Gedert · Käuflichkeit. Ich rufe deinen Namen. Ich schreibe deinen Namen. Erzähl’ mir, Käuflichkeit, wie du so schnell so viele ergebene Diener um dich scharen konntest in meinem kleinen Heimatland.
Doch Oxmann, wahrlich, ist ein Ehrenmann.
Früher soll mein Volk dich nicht gekannt haben, Käuflichkeit, aus dem Osten sollst du hergelangt sein wie die Kartoffel aus Amerika, wie Tabak und das Kartenspiel aus Ich-weiß-nicht-wo. Es gab Zeiten, da man alle diese Dinge hier nicht kannte. Aber das ist lange her, und der Geist des Tabaks hat sich in unser Blut gesogen.
Denn Oxmann, wahrlich, ist ein Ehrenmann.
Ich glaube dir, mein Weggefährte, ich beschuldige dich nicht, denn du bist aus meiner Schar. Der haben wir den heiligsten Namen gegeben, und du kannst nicht, du darfst nicht sein, wofür die anderen dich ausgeben wollen. Die, die nicht zu uns gehören. Es ist gar nicht möglich, daß du das getan hast, denn wir sind aus einer Herde, Amen. Und du vergibst mir meine Schuld, wie auch wir dir vergeben, unserem Schuldiger.
Und Oxmann, wahrlich, ist ein Ehrenmann.
Wir gaben dir ein schönes, ein schweres Werk, dir, Weggefährte du aus meiner Schar. Wir wußten, daß du es nicht kannst, daß du es nicht schaffen würdest, aber wir bauten auf dich, denn wir sind aus einer Schar. Und darum kann gar nicht sein, daß du es nicht könntest, daß du es nicht schaffen würdest. Das darf nicht sein. Denn wir sind aus einer Schar.
Und Oxmann, wahrlich, ist ein Ehrenmann.
Ich rufe deinen Namen, Käuflichkeit. Ich schreibe deinen Namen. Komm in mich, Käuflichkeit, gnädige, sanfte Verflüchtigung du. Wie ein Schluck, wie Rauch, wie ein Geist komm in mich. Ich will das Recht erlangen, über niemanden zu richten. Komm in mich, Unfehlbare, ich will mich richten in dein Maß.
Denn Oxmann, wahrlich, ist ein Ehrenmann.
Er beendet seine Niederschrift. Der Fährmann nähert sich, nimmt das Geschriebene und bringt es fort, um nach einer Weile zurückzukehren. Währenddessen versammelt sich nach und nach der Chor der Erstarrten Gesichter.
Gedert · Wenn ich die Leute betrachte, die mir auf der Straße entgegenkommen, dann wird mir immer deutlicher, wie viele erstarrte Gesichter darunter sind. Ihre Augen sehen mich nicht, sie sind nach innen gekehrt und sehen etwas fern von hier. Irgendetwas beschwören sie, versuchen sie der Vergessenheit zu entreißen, irgendetwas fragen diese Augen, diese Gesichter, die kein einziges Wort sagen.
der Unzufriedene · Schauen Sie nicht auf unsere Gesichter.
der Unabfindbare · Die gefallen niemandem. Wir kommen Ihnen doch lediglich in fest zugeknöpften, farblosen Mänteln auf dem Gehweg entgegen.
Gerania · Wir haben unsere Gesichter nicht entstellt. Das hat die Zeit getan.
der Unabfindbare · Die Zeit! Was ist das, z - e - i - t ? Hat sie Kopf, Magen, Finger? Trägt sie die Stacheldrahtrolle auf den Schultern? Hat sie eine Zunge zu lügen, Finger zu stehlen, einen Mund, um uns das Blut aus dem Hals zu saugen? Die Zeit hat unser Blut gerinnen lassen. Jemand anders ist Schuld. Oder mehrere. Vielleicht Sie? Nennen Sie die Namen!
der Unzufriedene · Zeit ist Verlängerung. Das Abbild des Lebens, das uns nicht gehört. Das einzige und wahre Leben ist der Augenblick. Ein kurzer und übermütiger Scherz. Weil wir nicht fähig sind, das zu begreifen, verlängern wir den Scherz, und es entsteht Zeit. Und mit ihr der Ernst. Die Zeit hat unsere Gesichter erstarren lassen.
Frau Frömmel · Die Zeit hat uns überholt. Wo ist das Tischtuch von Linnen geblieben, das liebevoll von der Hausfrau bereitete Mahl in der festlich hergerichteten Stube? Mit Hingabe reichten unsere verehrten Künstler Proben ihres Könnens dar. Die Kraft des Schönen, das im rechten Moment gesprochene Wort, dies alles schenkte uns ein Stück vom Himmel in unseren trüben, sorgenvollen Tagen. Üppige Blüten unserer Dankbarkeit ruhten in den Händen der Gäste. Wohlwollen waltete in den Gesprächen, da die Meister des gesprochenen Wortes, Kräutertee schlürfend, ihre Gedanken und Ideen kundtaten. Aus dem von ihnen Gesagten vermochte der Geist zu schöpfen. Im Tanzschritt verrichteten wir fortan unser Tagwerk... Doch ein Langhaariger in zerrissenen Hosen, der sich an einer Bierdose festgesogen hat, kreuzt meinen Weg. Scharen seiner Altersgenossen gehen mit aus den Ohren hängenden schwarzen Strippen an mir vorüber, von unhörbaren Rhythmen in Zuckungen versetzt. Ja, die Zeit hat uns überholt...
Herr Käsig · Mein Gesicht ist nicht verzerrt. Es ist aufgedunsen. Ein rötlichgelockter Herr, der uns vom Bildschirm seine Kochkünste lehrt, verriet mir, daß falsche Ernährung daran schuld sei. Jetzt weiß ich, wer ihr seid, ihr dort auf der anderen Seite des flimmernden Fensterchens. Ihr seid diejenigen, die immer alles richtig machen. Die richtig essen und im richtigen Takt ihr Eheleben pflegen. Ich habe das bläuliche Glas zerschlagen, und eine ätzende Flüssigkeit lief heraus. Wie aus dem Auge einer Bestie, die sich an der Erbärmlichkeit in unseren Wohnungen weidet.
Unterlippe · Auch ich wurde bekehrt, man predigte mir: Hör auf, mach Schluß; sie sagten, du machst dich kaputt. Aber es gibt einen Durst, einen Brand, der die Seele verdörren läßt. Ich war Bio- ... nun, nicht -loge, nur eine ganz kleine Nummer, sagen wir: ein Biolögchen. Und weiter aufzusteigen, das erlaubten sie mir nicht, mir, dem fern der Heimat irgendwo in einer Baracke Geborenen. Aber der Brand wollte nicht verlöschen. Meine Unterlippe schob sich unmerklich vor, wie um den letzten Tropfen aus einer weggeworfenen Flasche noch erhaschen zu können. Meine Nägel wurden bläulich, und das fällt auf, wenn ich um etwas bitte. Sehen Sie mich nicht an, wenn ich um etwas bitte.
Gerania · Ich bin nicht zornig. In meinem Herzen ist kein Haß mehr, und es könnte sogar verzeihen. Wenn jemand darum bitten würde. Aber mein Gesicht zog sich damals vor Schmerz zusammen und kann seinen friedfertigen Liebreiz nicht mehr zurückgewinnen. Ich bin häßlich geworden. Und Sie denken, böse. Das Schöne rettet die Welt, heißt es; ich werde sie nicht mehr retten können.
der Unzufriedene · Aber wir haben uns zu einem Chor vereint. Andere teilen sich in unversöhnliche Gruppen. Wir haben uns vereint.
Mutter (an der Seite des Vaters) · Ich wäre von selbst nicht in den Chor eingetreten, denn mein Gesicht ist nicht unfreundlich. Doch dem Vater haben sich tiefe Furchen um die Mundwinkel eingegraben, und seine Nase wird dünn wie ein Vogelschnabel. Ich komme zusammen mit ihm zum Chor, wo er sich gewissermaßen unter seinesgleichen fühlt. Wenn wir allein sind, schweigt er. Sag’ doch etwas!
Vater · Alles ist gesagt.
der Unzufriedene · Wir haben keinen Chorleiter, aber wir fühlen ihn hier ganz in der Nähe. Wenn wir verstummen, wird sein Spiel hörbar, ein langsamer Marsch. Wir sind kein singender, sondern ein schreitender Chor. Wir gehen durch die Stadt. Ihnen entgegen. Sehen Sie unsere Gesichter nicht an, wenn sie Ihnen nicht gefallen.
Der Chor entfernt sich. Auch Gedert ist verschwunden. Nur die Mutter und der Vater bleiben zurück; außerdem, am Rande, der Fährmann. Er spielt (oder summt) weiterhin leise vor sich hin.
Mutter · Eine Stunde. Zwei. Drei. Und kein einziges Wort.
Vater · Die Fragen sind verklungen. Die Antworten gegeben. Keine Streitigkeiten mehr. Gleichgewicht.
Mutter · Das habe ich mir immer gewünscht. Ohne zu wissen, daß es so stumm ist.
Vater · Melodien der Stille.
Er lauscht dem Fährmann.
Mutter · Hörst du etwas?
Vater · Nein. Aber man muß lauschen. Das Lauschen lernen. Das ist das Schwerste.
Die Mutter hat Medikamente hervorgeholt.
Vater · Was ist das? Wozu?
Mutter · Der Arzt hat es verordnet. Es ist sechs Uhr.
Vater · Mein Magen und meine Därme haben keine Uhr. Mir fehlt nichts. Das Herz pumpt zuverlässig Blut, der Kopf ist klar wie ein Eiszapfen im März. Melodien der Stille.
Mutter · Schon wieder.
Vater · Es gibt einen Gedichtband von Skalbe mit diesem Titel.
Mutter · Davon hast du mir nie erzählt.
Vater · Damals waren wir noch nicht verheiratet. Aber jetzt entsinne ich mich. Da war, wie war es doch...
Fährmann (leise) · Er versucht sich an die Verse zu erinnern...
Vater · „Durch Tage treibt mein Boot, durch Nächte hin,
wie eine Möwe taumelt es umher...”
Fährmann · „… Mein Boot, es gleitet sanft von Tag zu Tag,
und wie durch Sternenbrücken durch die Nacht;
hier treibt’s im Licht mit Möwenflügelschlag,
dort wird’s von Blätterschatten überdacht.
Doch sagt, weshalb der Schiffer einen Schleier schlägt
ums Haupt - und ewig nur hinab die Strömung trägt?”
Vater · An Träume kann man sich auch nicht erinnern. Sie werden immer wirklicher, aber wenn man erwacht ist, kann man sie nicht mehr in Worte fassen.
Mutter · Früher hast du mir deine Träume erzählt.
Vater · Geträumtes kann man nicht ersinnen; Ersonnenes nicht erzählen; Erzähltes nicht vollbringen; Vollbrachtes nicht verbessern. Ich werde keine Fehler mehr machen. Hol mir einen Bogen gutes Papier, Mutter. Was noch übrig ist von dem Bütten mit dem Rigaer Wappen im Wasserzeichen. Und schreib.
Mutter · Was soll ich schreiben?
Vater · Ich will mein Testament aufsetzen.
Mutter · Willst du es tun? Vielleicht ist es richtig so, Vater, denn irgendwann einmal muß es getan werden. Damit Klarheit herrscht. Auch für die Söhne.
Vater · Die Söhne... drei Naturen, drei Welten. Alleine werden sie sich nicht einigen können. Haben bestimmt schon nachgehakt. Unauffällig.
Mutter · Nicht, daß ich wüßte.
Vater · Aber die Gedanken kreisen sicher um diese Angelegenheit. Man wacht mitten in der Nacht auf und malträtiert seine Frau.
Mutter · Sie haben ja keine Frauen, Vater. Wenn sie nur hätten! Du weißt doch, Talav ist jetzt auch allein.
Vater · Dann reden sie mit sich selbst.
Mutter · Als ob dein Haus so groß wäre. Aber dann muß ein Notar dabei sein.
Vater · Da sitzt er doch. Siehst du ihn nicht?
Mutter · Wo denn? Mein Gott, Vater!
Vater · Ein blinder Notar. Mach’ dir keine Sorgen. Wer keine Augen hat, der ist gerecht.
Die Mutter sucht eilig Stift und Papier. Der Fährmann spielt einige tiefe Töne auf seinem Instrument.
Vater (diktiert) · Meine Immobilien vermache ich meinem ältesten Sohn Talav, wobei ihm die Pflicht auferlegt ist, für den Unterhalt seiner Mutter bis zu deren Lebensende aufzukommen.
Mutter · Und Vidurg?
Vater · Meinem zweiten Sohn Vidurg vermache ich meine sämtlichen Bankguthaben sowie die Bibliothek, die sich hier in meiner Wohnung befindet.
Mutter · Aber im Haus wohnt doch Gedert. Was ist mit ihm?
Vater · Meinem jüngsten Sohn Gedert vermache ich das Geisteslicht, welches mich mein ganzes Leben lang geführt hat.
Mutter · Schön gesagt, aber...
Vater · Gedert ist ein Pechvogel, deshalb soll er das meiste erben.
Nachdem die Mutter zuendegeschrieben hat, nähert sich der Fährmann und nimmt das Testament an sich.
[...]
1995
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
in Zusammenarbeit mit Pçteris Pçtersons
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