Gundega Repðe: Rot
Lett. Originaltitel: Sarkans
144 S. | Riga: Preses nams, 1999
Eine Annäherung von Matthias Knoll
Ein Titel, der in seiner provokativen Absolutheit dem Leser vermessen erscheinen mag oder muß. Non-adjektivisch ungebeugt auf ein Buch geworfen, ist Rot keine Farbe, sondern Urgewalt. Feuer. Sengende Sonne durch geschlossene Lider: Blut. Das Licht, in das der pränatale Mensch getaucht ist, wenn die selenische Urmutter sich dem Helios darbietet. Glut. Die Welt durch die unzähligen Augen der Leidenschaft Haß, Wollust, Rachedurst, Habgier wahrnehmen. Im Deutschen läßt sich ,rot’ zum ,Tor’ umkehren, im Lettischen können die Buchstaben des Wortes ,sarkans’ zu ,kraasns’ bzw. ,krâsns’ = Ofen umgestellt werden: Innere Intensität und Grenzüberschreitung, Leben, Treue und Tod sind zentrale Elemente bzw. Motive aller drei Episoden des Buches. Nicht vermessen ist dessen Titel, sondern ein schlichter Hinweis, vielleicht auch eine (gutgemeinte) Warnung. Nicht der Thrill eines raffinierten Plots ist es, der den Leser zum Vibrieren bringt, sondern die unablässige innere Spannung der Sprache und die seelische Intensität der Protagonistinnen und somit der Autorin.
Formal gesehen breitet sich vor dem Leser ein ungleichmäßiges Triptychon von drei scheinbar in sich geschlossenen Episoden aus. Das erste Bild nimmt ein Drittel, das Mittelbild hingegen beinahe (bis auf die sechs Seiten des letzten Bildes) den ganzen Rest des Buches ein. Eingeleitet wird jeder der mit I, II und III überschriebenen Abschnitte durch die lexikalische Erklärung eines Rottons: Zinnober, Karmin und Purpur. Rückblickend vom Ende eines Abschnitts auf seine Eröffnung wird deutlich, daß es sich nicht um Farbtöne, sondern um jeweils ein eigenes Farbwesen handelt.
I: Zinnober
Der erste Teil führt in eine sagenhafte Vorzeit, irgendwann und irgendwo an der Küste eines Meeres (Wikingerzeit? Gebiet der Aisten an der Ostsee?). Albert, ein Fischer, der insgeheim das Meer nicht liebt, zieht eine bewußtlose Frau aus dem Wasser und nimmt sie in seine Familie auf: da sind Gaja, die fürsorgliche Mutter, der 17jährige Jen, den eine Wolfsfalle vor fünf Jahren zum Krüppel gemacht hat, die beiden Zwillingsschwestern Egle und Vilda, zwei ungestüme und grausame Bogenschützinnen, sowie deren Freund und Gefährte Rimvid, der Jäger. Obgleich sich nach einigen Monaten überraschenderweise herausstellt, daß sie trotz ihres beharrlichen Schweigens die Sprache ihrer Retter zu verstehen gelernt hat, bleibt die blasse, schwarzhaarige Aurelia unter den blonden, rotwangigen Einheimischen eine Fremde. Unverwindbar ist der Schmerz über den Verlust ihres vermeintlich ertrunkenen Bruders Markus, den sie nachts in den Dünen anruft, von Wölfen umringt...
Aber auch die Einheimischen leiden unter der schwärenden Wunde eines traumatischen Erlebnisses. In der Nacht des Dreitags,
eines zyklisch wiederkehrenden, mysthisch-ekstatischen Paarungs- und Feuerritus, wurden vor einundzwanzig Jahren alle Angehörigen Dutzender von Sippen hingemetzelt bis auf die Jungfrau Gaja und den Krieger Albert. Krieg liegt als ewig dräuendes Verhängnis in der Luft, und Aurelia
wird als böses Omen angesehen. Als der Dreitag anbricht
Aurelia rührte sich nicht. Dieser betörende Paarungstanz, diese vitale und erschreckende, wogende Fläche von Leibern, dieses klaffende Sein ließen das Mädchen sich fühlen wie in der Gebärmutter des Universums. Von hier ist auch sie gekommen, hier ist der Anfang, ist die Geburt von allem, das noch sein wird (S. 40)
, töten die Zwillinge die Stute, die Rimvid Aurelia als Zeichen seiner Liebe geschenkt hat; erlegt Rimvid den alten Wolf, der bei der benommenen Aurelia in den Dünen war; zerfleischen Wölfe die beiden Zwillingsschwestern. Die verzweifelte Fremde flieht in die Sümpfe, wo sie, am Ende ihrer physischen Kräfte, auf ein Skelett stößt. Als Gaja, Albert und Rimvid sie finden, läßt sie diese ein gewaltiges Feuer am Meer entzünden, ordnet in dessen Schein die Knochen des Wolfskeletts und hebt einen Gesang an. Es ist ein Gesang, der ihren Körper übersteigt und das Meer überspannt; Fleisch legt sich auf die Knochen, Fell überzieht das Fleisch, der Wolf erhebt sich, läuft auf das Ufer zu und verwandelt sich in einen herrlichen Jüngling niemand anders als Markus, der seiner Schwester Aurelia lachend Adieu zuruft, sich in die Wogen stürzt und auflöst im Horizont. Als Aurelia sich gelöst Rimvid zuwendet, ist sie für immer ihrer Stimme beraubt. Der nächste Tag bringt die Kunde vom Krieg.
II: Karmin
Die zweite Episode spielt im Herbst 1997 in einer (fiktiven) lettischen Kleinstadt.
Rigonda: Blutarena zwischen den Jahrhunderten und Systemen. Ein Seitensprung der Zivilisation. Die pathologische Mutation des Ostens und Westens im Wasserglas. Für wenigstens zweitausend Menschen ist dieses Wasserglas Heimat, Leben, biographische Falle und Modell für die Ordnung des Universums. Der Laternenpark ist Rigondas Nabel und Brunnen. Gleichzeitig. Seine vier Alleen führten dereinst die vier Winde zu einem bronzenen Dionysos in ihrem Kreuzungspunkt (S. 54)
Eine Stadt, die man ebenso vergeblich auf der Landkarte suchen wird wie Thusa (Wo liegt das denn? In Afghanistan? S. 65), wo die nunmehr geschiedene Ich-Erzählerin Kamilla die letzten acht Jahre verbracht hat. Jetzt kehrt sie in ihre Heimat zurück; ihre Vergangenheit hat sie auf einige wenige Gegenstände reduziert, die in einen kleinen Koffer passen.
Mir kommt es plötzlich so vor, daß ich selber hier in Rigonda nicht so viel, nicht so verflixt viel sein werde wie im bisherigen Dasein. Vielleicht wird es Platz für andere, für anderes geben. Ich verfüge über: erstens eine Aufgabe, zweitens Arbeit, drittens
einen Vertrag, viertens Geld, fünftens ein Geheimnis (S. 52).
Kamilla unternimmt im Auftrag des Zeitungsverlegers Raphael jenes Menschen, der während der acht Jahre in Thusa der einzige wirkliche Freund war (S. 53) eine Expedition, die zwar angeblich nichts mit der Zeitung zu tun hat, über deren genaues Ziel aber ebenfalls keine Klarheit herrscht.
Kamilla soll über Cäcilia recherchieren, eine Frau, die 1936 als etwa Siebzigjährige in einem Altenwohnheim lebte und im Frühjahr 1997 als Teenager (!) Selbstmord verübte just an dem Tag, an dem Kamilla in Thusa während einer Fehlgeburt fast verblutet wäre. Cäcilias Geschichte, die sich allmählich abzeichnet aus Gesprächen mit Menschen, die im Laufe ihres Lebens in Beziehung zu ihr standen der einbeinige Jude Kleinbaum, der vor siebzig Jahren als 16jähriger für die Greisin mit der kindlichen Ausstrahlung schwärmte, ihre Tochter Rauna, die irgendwann älter war als ihre Mutter, Raunas Vater Longius, der offensichtlich auch Kamillas Mutter gekannt hatte, Frau Fischer, die Kleinbaum unglücklich liebte, bis er sein Bein verlor, die Familie Kundziòð , ist verflochten mit Kamillas Briefen an Raphael, in denen sie ihm Bericht erstattet, und ihrer eigenen Geschichte. Immer wieder treten in assoziativen Rückblenden ihre Großmutter Olympia,
ihr Vater Adam, Tante Daisy, ihr Liebhaber Robin, ihr Ex-Mann Fabian auf den Plan und ihre Mutter:
Meine Mutter hieß auch Cäcilia. Als sie schon im Erlöschen war, fragte ich sie, was Karminrot nun in Wirklichkeit sei. ,Das ist die rote Dunkelheit, in der die Kinder geboren werden’, sagte sie lächelnd (S.78).
In langsam gezogenen Kreisen kommen Kamilla und der Leser zwar nicht hinter das Geheimnis, aber doch in dessen Nähe: Obgleich die Rigondaer Kamilla schätzen gelernt haben, geben sie weder die Geschichte noch die Gebeine der Cäcilia preis, damit das Wunder ihrer Existenz nicht durch gewissenlose Wissenschaftler, mit denen Raphael offenbar im Bunde steht, entweiht wird.
III: Purpur
Der Legende nach wollte Peter der Große Rußland Anfang des 18. Jahrhunderts durch die Eroberung Livlands ein Fenster nach Europa verschaffen. Dies ist das Rahmenmotiv der letzten Episode
dse Buchs.
Es muß nicht unbedingt Europa sein, wenn du ein Fenster zur Welt öffnen willst, scheint das Mädchen in der ruhigen Bar gegenüber dem Dom von Siena mit seiner rot-weiß-schwarzen, sonnenüberfluteten Fassade zu denken.
Sie sitzt seit fast zwanzig Minuten hier, hat drei Baccardis geschlürft und ist zu dem Schluß gekommen, daß dies ihre langweiligste und am wenigsten eindrückliche Dienstreise gewesen ist, als ein kräftig gebauter Mann mit ergrautem, bis zu den Schulterblättern reichendem gewellten Haar, auf dessen Gesicht sich ein kummervoller Zug eingegraben hatte, das Mädchen auf deutsch anspricht. Plaudern wir ein wenig? Warum nicht? (S. 141).
Es ist die Farbe ihrer lackierten Nägel, die den Mann am Tag vor einer Operation, die er wahrscheinlich nicht überleben wird, der jungen Frau seine Geschichte anvertrauen läßt: Mila Melka, eine kahlgeschorene, erblühende Jungfrau in purpurrotem Gewand, wird kraft eines Gerichtsurteils des Landes verwiesen; die der Verhandlung beiwohnenden Bürger allerdings sind mit dem Urteil unzufrieden: [...] so eine verdient es, ins All katapultiert zu werden. [...] Die Frau ist das Tor zur Hölle, und daher hat diese prächtige Torhüterin auf alle Zeiten im Schoß des Universums zu verschwinden (S. 143). Mila Melka hatte dort, wo während des Krieges in einem Lager Frauen gefoltert wurden, einen Garten angelegt, ein Paradies der Schönheit, Fruchtbarkeit und Toleranz, und Familienväter und -mütter, Geistliche, Lehrer und Künstler, Ärzte, Juristen und Tänzerinnen, Handwerker und Sternengucker zu sich gelockt. Der Mann, der sie bis zur Landesgrenze geleitet, jenseits derer ein Krieg wütet, läßt sie in einer
Mischung aus Begehren und Scheu laufen. Am Grenzgraben scheinen sich die roten, schleierhaften Kleider der Frau zu entzünden, doch der Wind weht dem Mann einen roten Streifen des Gewandes in die Augen, und er erkennt nicht, ob sich Mila Melka in die Feuerfrau verwandelt oder...
(S. 145). Der ergraute Herr ist verschwunden, hat seiner benommenen Zuhörerin jedoch ein seidiges, purpurfarbenes Stirnband in die Hände gedrückt.
Auf dem Weg zum Flughafen gerät das Taxi in einen Stau. Ein Maserati hat einen kräftig gebauten, grauharigen Mann überfahren. Der Fahrer zitiert der Frau, unerklärlicherweise auf englisch, die Lehre Salomons, daß die Hölle und ein Abgrund niemals aufzufüllen sind, wie es auch für die Augen des Menschen nie genug des Gesehenen geben wird.
Der Taxifahrer erhält ein doppeltes Trinkgeld, die Frau jedoch schließt hinter sich ein Fenster nach Europa. (Schluß).
Resümee
Querverbindungen zwischen den drei in sich abgeschlossenen Geschichten werden nur sehr vage geknüpft: Sowohl ein Beischlafpartner der Aurelia in ihrer Heimat
Mit jemandem zu schlafen, war in ihrem Land nur während der Pausen zwischen den Kriegen üblich, um die Saat für neue Krieger zu legen, die das Land verteidigen würden. [...] Tom und Rem nahmen sie zwischen den Gefechten im Stehen und schärften ihr ein, sich bis zum nächsten Mal nicht mit anderen einzulassen (S.40)
als auch der letzte Liebhaber der inzwischen zum Kind zurückgereiften Cäcilia tragen den Namen Tom. Bei dem Wagen, von dem im vorletzten Absatz des Buches offensichtlich der Erzähler der Geschichte von Mila Melka überfahren wird, handelt es sich wahrscheinlich um den weißen Maserati von Kamilla. Sollte es Raphael gewesen sein, der Aurelia in der Gestalt von Mila Melka auf einer anderen Zeitebene begegnet und ihr verfallen ist, so daß er sich nie mehr an eine Frau binden konnte, wie Kamilla bemerkt? Oder ist Mila Melka, wie die Buchstaben ihres Namens vermuten lassen, Kamilla?
Wie schon in Gundega Repðes letztem Roman Çnu apokrifs (1996, deutsch erschienen unter dem Titel Unsichtbare Schatten, Köln: DuMont, 1998), spielen auch in Rot über die Welt verstreute Schauplätze und somit des Geflecht der Kulturen eine zentrale Rolle. Kamilla ist, ebenso wie Nina, recht weitgereist und hat an verschiedenen Orten außerhalb Lettlands gelebt und wichtige Erfahrungen gemacht; Aurelias stets mit Krieg überzogene Heimat ist irgendwo jenseits des Meers; die namenlose Frau im dritten Abschnitt befindet sich dienstlich in Italien. Beide Romane enden am oder auf einem Flughafen, dem Symbol für den Schritt in eine andere Welt, für das Zurücklassen alles Gewesenen. Dabei ist Rot
in allen seinen Teilen sehr viel komplexer als Unsichtbare Schatten, die Nina eindeutig
in den Mittelpunkt rücken und ihre Geschichte beleuchten; dies liegt insbesondere an der in
Rot hinzugekommenen mysthischen Dimension. Allerdings ist der Umgang mit den neben den
Protagonistinnen der jeweiligen Episoden eine Rolle spielenden Figuren ein ähnlicher wie
in Unsichtbare Schatten; insbesondere die in der Erinnerung auftauchenden werden
lediglich skizzenhaft angedeutet sie haben eine Funktion bzw. dienen als Katalysatoren
in der psychologischen Textur der Heldinnen. Mehr Profil haben freilich die unmittelbar
agierenden Figuren: sie halten mit einer mysteriösen Wahrheit und ihren Motiven hinterm
Berg, sind ab- und hintergründig ohne daß genaueres über ihre Hintergründe deutlich würde.
Gundega Repðe hat aus einer schöpferischen Springflut heraus eine Sage, einen Mythos
und eine Legende erschaffen, die das Mysterium des Lebens die buchstäbliche Überwindung des Todes und die (Wieder-)Geburt als Willensakt in rarer literarischer Intensität aus
verschwenderisch unterschiedlichen Perspektiven lodernd vor Augen führen. Rot macht uns zu Zeugen eines ekstatisch-mentalen Gebärens, einer kosmischen Niederkunft. Trotz Virginia Woolfs Orlando: So viel Frau war nie.
Kommentare
Die drei Farb-Bilder in diesem Buch regen zum Nachdenken über drei Dinge an: Kann die Vergangenheit in die Zukunft vordringen wie Zinnober? Wie vieler Tausend Koschenille-Läuse bedarf es, um ein einziges Gran wahrhaftiger Gegenwart bzw. Karmin zu gewinnen? Und wie hoch ist der Preis, der dafür an die ,in Purpur geborene’ Zukunft gezahlt werden muß?
Nora Ikstena, Schriftstellerin
Ganz wie andere Bücher von Gundega Repðe: prachtvoll und zugleich widersprüchlich. Ihre Heldinnen sind geistig und physisch vollblütige Frauen, die unnachgiebig sind in ihrer
Unabhängigkeit und in ihrem Kampf gegen jegliche Vorurteile, Einschränkungen, Dogmen und Banalitäten. Paradoxerweise jedoch vermag diese Frauenwelt letzten Endes nicht ohne unablässiges Kräftemessen mit der Männerwelt zu existieren wie man es auch dreht und
wendet: ihre Identität und Unabhängigkeit ist der siamesische Zwilling der Männerwelt.
Inese Treimane, Literaturkritikerin
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© M. Knoll
Gesamtumfang: 14.467 Zeichen / 8 Normseiten, publikationsfertig
www.literatur.lv
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