Mâra Zâlîte

Margarete

Kammerspiel in zwei Teilen

mit Zitaten aus der Tragödie „Faust”
von Johann Wolfgang von Goethe


Die Aufführungsrechte liegen beim Kaiserverlag (Wien)



Personen:

Margarete, ca. 40 Jahre alt
Anwalt, ca. 25 Jahre alt
Beamter der Strafvollzugsanstalt, unbestimmtes Alter


Ort:

Eine Gefängniszelle

 

 


Erster Teil

Montag

 

Beim Öffnen des Vorhangs wird ein zweiter sichtbar, hinter dem sich zu den Klängen von Schuberts „Gretchen am Spinnrad” schemenhaft eine Frauengestalt bei einer dem musikalischen Motiv scheinbar entsprechenden Beschäftigung abzeichnet. Beim Öffnen des zweiten Vorhangs zeigt sich, daß es sich keineswegs um ein traditionelles Spinnrad handelt, sondern um einen Heimtrainer, auf dem Margarete kräftig in die Pedale tritt. Der Raum ist eine Gefängniszelle mit hohem, schmalem Fensterchen und schwerer, von außen verriegelter Tür. Die Einrichtung besteht neben dem Heim­trainer aus einem reich bestückten Bücherregal sowie einer Kaffeemaschine. Die Tür wird hörbar aufgeschlossen und geöffnet. Der Anwalt tritt ein.

Margarete · Danke. Stellen Sie’s an den gewohnten Platz. –
Was gibt es noch?

Anwalt · Ich bin von dieser Zelle überrascht.

Margarete steigt von dem Heimtrainer ab.

Margarete · Verzeihen Sie ...
Den Wärter wähnte ich gekommen,
der stets das Mittagsmahl mir bringt.

Anwalt · Ein wirklich ungewohnter Anblick
für unsere Gefängnisse ...

Margarete · Zu danken ist dies einer Stiftung,
die ihren Sitz im Ausland hat.
Als ich hier eingekerkert wurde,
da gab es nichts als Stroh zur Lagerstatt.

Anwalt · Ich würde sogar sagen, heimelig ...

Margarete · Wenn man sein ganzes Leben im Gefängnis zubringt,
wird dieses unwillkürlich zum Zuhause.

Anwalt · Tja, also ... Guten Tag zunächst einmal.

Margarete · Guten Tag. Was wünschen Sie?
Ich bin es nicht gewöhnt, Besuch zu haben.

Anwalt · Gestatten Sie, mich vorzustellen:
Ich bin Ihr Anwalt. Vor Gericht
Sie zu vertreten, ist mein Auftrag.

Margarete · Gericht? Was soll das heißen – vor Gericht?

Anwalt · Ich gebe zu, die Sache ist verwirrend.
Tatsächlich ist­’s ein alter Rechtsfall,
mit dem man mich betraute. Sehen Sie,
bei all den großen… nun, Veränderungen,
die sich in unsrem Land vollzogen haben,
in diesen Jahren radikaler Umwälzungen ...
da war Ihr Fall im wahrsten Sinn des Wortes
– ich bin ganz offen – untern Tisch gefallen.
Seit endlich Ordnung herrscht in unsrem Staat,
zumindest anfängt, sich zu etablieren,
obwohl noch einiges im argen liegt ...

Margarete · Was wollen Sie von mir?

Anwalt · Mit einem Wort, es stellte sich heraus,
daß Ihre Sache vor Gericht
bislang noch nicht verhandelt worden ist.
Recht ungewöhnlich, in der Tat.
Jetzt steht er wieder auf der Tagesordnung,
Ihr schwerer Fall. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Vielleicht jedoch im übertragnen Sinne?
Denn diese Akte ist so leicht ... Egal.
Er wird erneut verhandelt, und das Strafmaß
für Sie dann festgesetzt von dem Gericht.

Margarete · Sie sind gekommen, mich zu ängstigen.

Anwalt · Ach, wär’s nur das ...

Margarete · Und meinen Frieden zu zerstören.

Anwalt · Frieden?

Margarete · Ja, meinen Frieden.
Der schwer errungen ist in diesen langen Jahren.
Bin ich denn nicht hier im Gefängnis,
um meine Strafe zu verbüßen?
Und ist denn ,lebenslänglich’ nicht das Strafmaß?
Wozu hält man mich sonst hier fest
seit fünfundzwanzig Jahren?
Viel älter werden Sie nicht sein –
ist das denn etwa nicht ein ganzes Leben?!
Ich bin in dieser Zelle eingesperrt.
Ich bin gestraft.

Anwalt · Sie irren sich, Verehrteste.
So mag es Ihnen subjektiv erscheinen,
doch die Justiz hat ihre eigne Logik.
Bisher sind Sie im Sinne des Gesetzes nur
verhaftet.

Margarete · Verhaftet – fünfundzwanzig Jahre lang?

Anwalt · Obgleich nicht ich es bin, der diesen Fehler
begangen hat, tut es mir herzlich leid,
daß er begangen wurde.
Ich will es noch einmal erklären:
Veränderungen haben dieses Land erschüttert und ...

Margarete · Ich lese Zeitung! Und ich höre Radio!

Anwalt · ... Ihr Fall ist in Vergessenheit geraten.
Er muß jetzt endlich abgeschlossen werden.
Sie wurden von der Staatsanwaltschaft angeklagt,
und deshalb bin ich hier, vom Staat für Sie
zum Pflichtverteidiger ernannt.

Margarete · Das ist ein Scherz!
Ein Wahnbild! Ich verliere den Verstand!

Anwalt · Davon kann keine Rede sein
laut dem Befund des Psychopathologen.
Sie sollen in der Tat gelitten haben
an irgendwelchen psychischen Problemen.
Ganz zu Anfang.
Die wurden auf den Schock zurückgeführt,
den Sie durch all das Vorgefallene
erlitten haben. ,Nervenschock,
interimistisch’, heißt es hier.
Ihr gegenwärtiges Befinden sei
jedoch normal.

Margarete · Ich weigre mich, all das zu glauben.
Das kann nicht sein. Und was ist mit Verjährung?

Anwalt · Verjährung kann nicht zur Debatte stehen
in Ihrem Fall – denn Ihre Missetaten
sind leider zu entsetzlich, Gnädigste.

Margarete · So hebe dich doch von mir, Alp!

Anwalt · Das geht nicht. Und es stünde auch
im Widerspruch zu meinen Pflichten.
Für die der Staat mir ein bescheidnes zwar,
doch immerhin ein Honorar bezahlt.
Ich habe Ihren Fall studiert
und bin auf Widersprüchliches gestoßen.
Ich hoffe, daß Sie mir nun helfen
– in Ihrem eigenen Interesse –,
in diese Sache Licht zu bringen.
Sie werden manche Einzelheiten
sich in Erinnrung rufen müssen.

Margarete · Ach, daher weht der Wind!
Sie wollen Einzelheiten!
Sie sind wohl Literat?
Nein, eher Journalist!
Die sind nach Einzelheiten gierig,
wie Hunde es nach Knochen sind.
Auf diesen Leckerbissen müssen Sie
verzichten, Herr! Ich habe es vergessen. Alles.

Anwalt · Sie können selbstverständlich
auf einen Rechtsbeistand verzichten.
Sie sind sich aber hoffentlich bewußt,
daß hier in Ihrem Fall der Staatsanwalt
das höchste Strafmaß fordern wird,
das heißt, den Tod. Die Todesstrafe
ist noch nicht abgeschafft auf dieser Welt.

Margarete · Gehen Sie.

Anwalt mit einer Geste auf die Einrichtung der Zelle ·
Das sollten Sie sich gründlich überlegen.
Ich sehe, daß der Lebenswille Sie
trotz allem nicht verlassen hat.
Gekommen bin keineswegs, um Ihnen
die Zeit, die knapp bemessne, zu vertreiben.
Sie haben offenbar den Ernst der Lage,
in der Sie sich befinden, nicht begriffen.

Eröffnet wurde ein Verfahren gegen Sie.
Die Staatsanwaltschaft fordert
für Sie die Todesstrafe.

Margarete · Wie eigenartig ... Irgendwo
wünscht jemand meinen Tod. Das heißt,
er denkt an mich. Man denkt an mich ... Wie schön.
In welchem Winkel, Tod, verstaubte
in all den langen Jahren deine Sense?

Anwalt · Die hat noch niemals tatenlos geruht.

Margarete · Ja, damals habe ich den Tod ersehnt.
Doch jetzt, da ich ein völlig andrer Mensch bin?
Jetzt sterben? Jetzt den Tod? O nein. Nein, nein.

Sie hat sich mit der Situation abgefunden. Beide richten sich auf ein längeres Gespräch ein.

Anwalt · Sie werden in drei Fällen angeklagt.
Und zwar: Sie haben erstens Ihre Mutter
vergiftet, zweitens dann Ihr Kind ertränkt,
und drittens Beihilfe zum Mord geleistet
an Ihrem Bruder.
Sie dürfen eines nicht vergessen –
daß ich Ihr Anwalt bin, der Sie verteidigt.
Sie müssen mir vertrauen
und ohne Rückhalt offenherzig sein.

Beginnen wir beim ersten Fall:
Sie haben Ihre Mutter umgebracht
mit Gift. Sie haben sie gehaßt. Weshalb?

Margarete · Gehaßt? Ich – meine Mutter?
Was faseln Sie denn da! Ich liebte sie.
So lassen Sie mich doch in Ruhe!
Das alles ist schon längst vergessen!
Sie mögen es wohl, Fliegen langsam
die Flügel und die Beinchen auszuzupfen?
Und außerdem: ich bin begnadigt!
Das müssen Sie als erstes wissen!
Gerettet bin ich! Bin gerettet!

Anwalt · Gerettet? Wer hat das behauptet?

Margarete · Die Stimme.

Anwalt · Die Stimme? Welche Stimme?

Margarete · Die Stimme aus dem Himmel, und sie sprach:
Gerettet! Aus dem Himmel tönte sie,
mein ganzes Wesen war durchdrungen
von ihr. Gerettet! Ja, ich bin gerettet.

Anwalt · Margarete! Ich erlaube mir,
beim Namen Sie zu nennen.
Sie sind doch eine kluge Frau!
Hier sind so viele Bücher –
wenn Sie die alle auch gelesen haben ...

Margarete · Sie halten sie für Requisiten?

Anwalt · Sie müssen doch verstehen,
daß das kein Argument ist – eine Stimme!
Das war der Schock wohl, unter dem Sie damals
laut ärztlichem Befund gestanden haben.
Vergessen wir ganz einfach diese Ihre
Behauptung, die die Richter lediglich
zu einem Grinsen provozieren würde.

Margarete · Es war die Stimme Gottes.
Wahrscheinlich sind Sie Atheist?

Anwalt · Nein, keineswegs. Doch Gott als Zeugen
zu laden vor Gericht, kann heute sich
als ziemlich kompliziert erweisen.
Es sei denn, daß Sie eine Bandaufnahme
von jener Stimme haben, die wir dann
nur abzuspielen brauchen vor Gericht.

Margarete · Sie machen sich wohl lustig über mich.

Anwalt · Verzeihen Sie. Ein wenig, ja. Und doch –
selbst wenn Sie eine Bandaufnahme hätten:
wer könnte dann bezeugen, daß die Stimme
tatsächlich die von Gott ist? Heutzutage
vom Teufel Gott zu unterscheiden,
ist gar nicht einfach.

Margarete · Wenn Sie die Stimme selbst vernommen hätten ...

Anwalt · Das hab ich aber nicht! Und Punkt.
Zu meiner Frage ... Also nochmals: Haben
die Mutter Sie gehaßt? Wenn ja – weshalb?

Margarete · Ich habe sie geliebt.

Anwalt · Doch unbewußt vielleicht ...
Sie haben, wie ich sehe, Freud gelesen ...
Ich könnte Ihnen ein recht schlüssiges Motiv
für Ihren Haß in das Gedächtnis rufen.
Er liest aus der Akte vor:
„Was hab ich nicht schon alles schaffen müssen!
Wir haben keine Magd; muß kochen, fegen, stricken
Und nähn und laufen früh und spat,
Und meine Mutter ist in allen Stücken
So akkurat!”*

Sie fühlten offensichtlich sich erniedrigt
durch Ihre Mutter, die Sie knechtete?
Sie war wohl herrisch? Fühllos? Schroff?

Margarete · Nein, nein! Sie ward in allem, was sie tat,
von einem liebevollen Herz geleitet.
Mit warmer, sanfter Hand wies sie mich an.
Daß stets das Tischtuch reinlich sei
und frische Blumen in der Vase stünden,
der Estrich fein mit weißem Sand bestreut…
Wie eine Biene war sie selber emsig
und schleppte mit gebeugtem Rücken schwere Lasten;
sie lehrte mich – ich war doch noch ein Kind! –,
daß es die Hand der Frau ist,
die Gottes Segen trägt ins traute Heim.

Anwalt · Ja, in der Tat: ein mächtges Stereotyp.
Auch Sie sind eine Frau – jedoch mit Ihnen
bringt man nur schwerlich den Begriff
des Segens in Verbindung. Leider.

Margarete · Zu deiner Freude, liebste Mutter, dir
zur Hilfe wuchs ich auf! Ich war doch stets
und überall dein Augenstern und Stolz,
dein Augenstern und Stolz ...

Anwalt · … um ihr dann Gift zu geben.

Margarete · Wie schwach sie war, wie hilflos und zerbrechlich.
„Die Mutter gaben wir verloren,
So elend, wie sie damals lag,
Und sie erholte sich sehr langsam, nach und nach.
Da konnte sie nun nicht dran denken,
Das arme Würmchen selbst zu tränken,
Und so erzog ichs ganz allein,
Mit Milch und Wasser: so wards mein!
Doch gabs gewiß gar manche schwere Stunden.
Bald mußt ichs tränken, bald es zu mir legen,
Bald, wenns nicht schwieg, vom Bett aufstehn
Und tänzelnd in der Kammer auf und nieder gehn.,
Und früh am Tage schon am Waschtrog stehn,
Dann auf dem Markt und an dem Herde sorgen…”

Anwalt · So, so. Vielleicht kam Ihnen der Gedanke,
den kleinen Schreihals loszuwerden?
Das Kind ist doch gestorben, oder?

Margarete · Wie können Sie nur denken, daß ...

Anwalt · Gestorben ist es. Ihre Bürde!

Margarete · Das stimmt.
„Mein Schwesterchen ist tot.
Ich hatte mit dem Kind wohl meine liebe Not;
Doch übernähm ich gern noch einmal alle Plage,
So lieb war mir das Kind.”

Anwalt · Fast wie Ihr eigenes, nicht wahr?

Margarete · Ja, fast.

Anwalt · Fast wie Ihr eigenes, das Sie ertränkten?

Margarete schweigt.

[...]


1998
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll




* Bei den in Anführungszeichen gesetzten Stellen
handelt es sich um folgende Zitate aus Faust I:
  • Zeilen 3083 u. 3111 - 3114
  • Zeilen 3128 - 3134
  • Zeile 3136
  • Zeilen 3140 - 3144
  • Zeilen 3121 - 3124





Lett. Originaltitel: Margarçta
Aus: M. Zâlîte: Sauciet to par teâtri [Rîga: Jumava, 2000]
Uraufführung: 16. März 2001 (Jaunais Rîgas teâtris)

Die rhythmischen Eigenarten des Originals – zuweilen trochäische Zeilen –
wurden bei der Übersetzung berücksichtigt. Die Übersetzung wurde von der
Stiftung Kulturkapital (Kultûrkapitâla fonds) gefördert.

Gesamtumfang der Übersetzung: 70.979 Zeichen / 40 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 11.280 Zeichen (16%)

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