Mâra Zâlîte

Wasser des Lebens, Wasser des Todes

Rede im Rahmen einer Gedenkfeier für die Opfer des Stalinismus
in der Rigaer Philharmonie am 14. Juni 1989


Wir sind Schiffe auf dem Meer des Leids. Wir schwimmen in den schwarzen Wassern von Trauer und Verzweiflung, die in uns eindringen. Gedenken ist unser Segel, und wir segeln heute vor dem Wind des Schmerzes. Wir sind unkalfaterte Schiffe auf dem Meer des Leids. Überall um uns Wasser des Todes. Aber wir dürfen nicht und wir wollen nicht sinken. Mit Händen schöpfen wir dieses Wasser des Todes, und wir müssen es verwandeln, ehe wir es zurückschütten ins Meer.

„Wasser des Lebens, Wasser des Todes, beide in der fühlenden Seele“, heißt es bei Rainis in seinem Poem Daugava.

14. Juni. An diesem Tag werden ewig die Räder der Viehwaggons rattern, werden die Schienen dröhnen, wird das Weinen der Kinder und das Stöhnen der Greise erklingen, werden die zusammengebissenen Zähne der Männer knirschen, wird das Fluchen der Aufseher ertönen und das unhörbare Klagen der blühenden Erde. Es war die satanische Musik der Gewalttätigkeit, die jener Morgen spielte. Die satanische Musik der Gewalttätigkeit. Der Dämon des Bösen spielte seine Ouverture in Lettland. Deportation – welch intelligente Bezeichnung für ein Verbrechen. Ein Verbrechen, das sorgfältig geheimgehalten wurde. Erinnern wir uns an den noch gar nicht lange zurückliegenden 14. Juni 1987 und jene ersten beherzten Menschen, die sich am Freiheitsdenkmal versammelten. Und erinnern wir uns an die Reaktion darauf. Ich rede nicht von der Anwendung roher Gewalt und das Dunkelmännertum der damals herrschenden Reihen. Das war nicht das Schmerzlichste. Das Schmerzlichste war der Gehorsam eines großen Teils unseres Volkes, das Beipflichten jenen, die eine Hexenjagd veranstalteten und die Organisatoren der Gedenkstunde verurteilten. Schlagen Sie die Zeitungen von vor zwei Jahren auf, rufen Sie sich die Versammlungen in Ihren Fabriken, Büros und Ämtern ins Gedächtnis! Und wir werden uns alle schämen. Und wir werden begreifen, in welchem Maße unser Bewußtsein den Manipulationen unterworfen war und in welcher geistigen Sklaverei wir lebten. Dies ist das Wasser des Todes, das wir in unseren Seelen fühlen.

Nicht nur physisch wurden wir vertrieben aus unserer Heimat durch die Massendeportationen am 14. Juni 1941 und am 25. März 1949, wir wurden auch geistig aus unserem Vaterland verbannt, aus unserer Geschichte, aus unserer Selbstachtung; und diese geistigen Verbannungen dauern bis zum heutigen Tag an. Wir sind getränkt in Lügen und Demagogie, abgeschnitten von Information, und viele, ach, viel zu viele sind zu Opfern dieser geistigen Gewalttätigkeit geworden. Dies ist das Wasser des Todes, das wir in unseren Seelen fühlen.

Wir haben uns wie Verbannte gefühlt im eigenen Land. Verbannt aus unserem geistigen Zuhause. Verbannt aus unserer Lebensart: fort von den Einsiedlerhöfen! Verbannt aus unserer Kultur: fort von der Folklore! Verbannt aus unserer Sprache: fort von den Liedern! Verbannt aus Europa: fort von der Zivilisation! Ein verbanntes Volk! Und noch immer versucht man, uns zu verbannen. Zu verbannen aus der Ewigkeit – als Volk aus der Menschheit.

Heute sind wir Verbannte, die zurückkehren. Und obgleich die Lokomotiven, die uns 1956 und in den folgenden Jahren zurückbrachten, längst schon verrostet sind: geistig kehren wir noch immer zurück. Das ist das Wasser des Lebens, das wir in der Seele fühlen.

Heute trauern wir um unser Volk. „Das Volk“ – das ist keineswegs etwas Abstraktes. So trauere ich heute um meinen Großvater, der in den Lagern von Wjatka umgebracht wurde, um meinen Urgroßvater, der im Gebiet Krasnojarsk den Hungertod starb, um meine Großmutter auf ihrem Golgatha-Weg, um das zerstörte Leben meiner Eltern. Sie sind Opfer. Aber vergessen wir nicht, daß es für jedes Opfer auch einen Henker gibt. Wir dürsten nicht nach Rache, aber so viel Stolz sollten wir besitzen, daß wir nicht neben den Henkern in den Führungsreihen sitzen und Orden an den maßgeschneiderten Anzügen der Henker blankpolieren. Wir dürfen uns nicht dem Haß hingeben. Wir müssen ihn in Liebe verwandeln. Schöpft mit euren Händen das Wasser des Hasses, des Schmerzes und der Verzweiflung, das uns umgibt und in uns eindringt, und verwandelt es Tropfen für Tropfen in Liebe für euer Land, in Treue und Dienstbarkeit für dieses Land. Nur das Licht vermag das Dunkel zu überwinden, und nur so kann das Wasser des Todes in Wasser des Lebens verwandelt werden.

Die Freiheit ist kein einsames Denkmal mehr, hoch über uns an einer Straßenkreuzung. Und möge ein jeder begreifen, daß „brîvîba“ (Freiheit) und „dzîvîba“ (Leben) nicht nur ein schönes Reimspiel für Poeten ist. Die Freiheit ist unser Leben.

„Wasser des Lebens, Wasser des Todes,
beide in der fühlenden Seele.“

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Lettischer Originaltitel: Dzîves ûdens, nâves ûdens
Aus: Kas ticîbâ sçts [Riga: Karogs, 1997], S. 159 ff.

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: 4812 Zeichen / 3 Normseiten
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