Imants Ziedonis

Bärchenmärchen


Jedes Jahr brachte die Bärin Junge zur Welt. In diesem Frühling waren es drei: Honigbär, Fliegenbär und Beerenbär. Beerenbär war Mamas Liebling, denn er war das friedlichste und gehorsamste Kind, das man sich vorstellen kann. Niemals sprang oder rannte oder tobte er herum. Er saß nur da und aß Beeren. Als die Heidelbeeren reif wurden, hatte er vom In-den-Beeren-Sitzen ein schwarzgeflecktes Hinterteil. Manchmal war er ein einfältiger Bär, so einfältig und verfressen, daß er mit vollgeschlagenem Bauch in den Sträuchern saß und sich einbildete, die Beeren würden von selbst zu ihm kommen können:

„Hoch soll’n alle Beeren leben,
die mir in das Mäulchen schweben!”

„Fliegenbär”, sagte die Bärin, „ist mein kleiner Verrückter.” Und wirklich: noch niemals hat man einen Bären gesehen, der so verrückt nach Fliegen war. Den ganzen Tag jagte er ihnen nach. Er brüllte sie an, sprang in die Luft und plumpste auf den Boden. Einmal verstauchte er sich dabei sein Stummelschwänzchen, doch es half nichts: er jagte weiter und weiter. Was auch immer man ihm zu fressen anbot, ob Beeren, Honig, Eiscreme oder Kekse – es war nichts zu machen. Ihm schmeckten nur Fliegen. „Ich bin der beste Fliegenjäger”, prahlte er. Er spürte Fliegenschlupfwinkel auf, kannte alle Fliegenlieder und konnte Fliegenfährten lesen. Ein Blick auf die Fensterscheibe reichte ihm, um zu wissen, welche Fliegen darauf herumspaziert waren: Zuckerfliegen, Waldfliegen oder Lampenfliegen. Natürlich saßen Lampenfliegen gewöhnlich auf Lampen oder Lampenschirmen; aber es kamen ja auch Pilzfliegen, Kuhfliegen und Nachtfliegen am Abend durch das offene Fenster geflogen, um sich auf die Lampe zu setzen. Und Fliegenbär konnte sie alle voneinander unterscheiden – und ihre Lieder auch. Fensterfliegen sangen ein wenig näselnd, was damit zusammenhing, daß sie mit den Nasen schon so oft gegen die Fensterscheibe geflogen waren. Grasfliegengesang war graugrün wie Marmeladenschimmel. Die Lieder der Deckenfliegen jedoch klangen verkehrt, mit den Beinchen nach oben. Wenn sie sangen: „Wir sind die Deckenfliegen”, dann hörte man: „Negielfnecked ied dnis riw”. Nur das Liedchen „’ne Schnaps-Ella muß um alles panschen” war von oben und unten und in jeder Richtung zu verstehen.
     Honigbär war süß – und ein Süßmaul. Ein solches Süßmaul, daß er niemals genug zu naschen bekommen konnte. Beim Frühstück schüttete er solange Zucker in seinen Kakao, bis er übergelaufen und die Tasse bis zum Rand voll mit Zucker war. Dann war er glücklich und sagte, nur so sei es ein richtiger Kakao! Solch leckeren Kakao könne er von morgens bis abends trinken! Wenn man ihm aber verbot, sich derart zu verzuckern, dann dachte er sich eine List aus. Nachdem am Abend alle ihren Tee getrunken hatten, brachte er es fertig, unbemerkt in die Zuckerdose zu schlüpfen. Deckel zu über dem Kopf – und die ganze Nacht daringeblieben. Alle suchten und suchten: kein Honigbär weit und breit. Honigbär jedoch schleckte und schlemmerte die ganze Nacht.
     Am nächsten Morgen tranken alle ihren Kakao. Als Beerenbär sein Löffelchen in die Zuckerdose stecken wollte, schrie die Dose „Autsch!”, und Honigbärs Kopf kam zum Vorschein. Er war so dick und vollgefressen, daß er nicht mehr durch die Öffnung paßte. Er steckte fest.
      Schließlich mußte die Dose zerschlagen werden, und die Bärenmutter verbot Honigbär ein für allemal, in Zuckerdosen, Töpfe, Kannen, Krüge oder Flaschen zu kriechen.
      Ein anderes Mal klebte Honigbär in einem Buch fest. Eigentlich hatte er lesen wollen, doch die Buchdeckel schlugen zu und drückten ihn platt wie eine Briefmarke. Zunächst bekam die Bärenmutter ihr Bärchen nicht heraus; erst als sie die Buchseiten über dem Kochtopf in den Dampf hielt, konnte sie Honigbär wie ein Abziehbild herauslösen. Vollkommen platt allerdings. Die Bärin mußte fünf Liter Honig in ihr Söhnchen füllen, bis es wieder ihr Honigbärchen war – rund, süß und lebendig.
     Honigbär war wirklich sehr lieb und sehr süß. So süß, daß Bärchen von fern und nah um seine Freundschaft warben. Dann leckten sie sein Schnäuzchen und behaupteten, es sei süß wie Eiscreme oder ein Milkshake.

(1976)
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Originaltitel: Lâèu pasaka [Riga: Liesma, 1977]

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang der Übersetzung: 15.941 Zeichen / 9 Normseiten, publikationsfertig
Umfang der Leseprobe: 4.158 Zeichen (27%)
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