Gundega Repðe | Unsichtbare Schatten

Leseprobe: Seiten 7 bis 9 (Anfang)



An jenem Morgen hat die in Rauls Diensten stehende Vietnamesin San-San der Durchfall erwischt. Als Jeans-Minirock und der von einer Kunststoffspange gekrönte Hinterkopf mit einem verzweifelten Satz zum vierten Mal in der Toilette verschwunden sind, reißt Nina sich los.
    Die taubgewordenen Hände zittern, und die blutig aufgeschürfte Haut an den Unterarmen brennt mörderisch. Während das Herz im Galopp von der Lunge zur Leber, von der Leber ins Hirn rappelt, hastet die Frau die Treppe hinunter.
    Tirgoòu iela* und Domplatz brummen aufgekratzt, ganz wie es sich Mitte Juni für das Sonnengeflecht von Riga gehört.
    Max, der Empfangschef vom Restaurant Lido nebenan, grüßt mit gewohnter Höflichkeit, wirft jedoch der sonst hübsch zurechtgemachten Dame, die da in roten chinesischen Pantoffeln sonderbar schwankenden Schrittes davonläuft, einen erstaunten Blick nach.
    Dann schießt San-San auf die Gasse und haspelt mit piepsiger Stimme unverständliche Wörter hervor.
    Für einen neugierigen Augenblick verstummen Pizzaesser, morgendliche Biertrinker und die für den Tag herausgeputzte Promenadenjugend, dann brandet das Gemurmel wieder auf.
    Das Kunststoffgold der Vietnamesin blitzt zum Haus des Rundfunks, zögert bei der Börse, gleitet durch den Schatten des Doms und kommt ängstlich verwirrt in der Kaïíu iela zum Stillstand. In ihrer Aufregung vergißt die Vietnamesin selbst die einfachsten russischen Vokabeln, so daß sie weder Max vom Lido noch Karnickel vom Blauen Vogel, weder Maiga vom Kolonna noch Kasino-Tâlis, weder Puschel vom Spendrups noch Lydia vom Zeitungskiosk oder den Akkordeonspieler Julius fragen kann, in welche Richtung Nina entflohen ist.
    Ihren bedrohlich rumorenden Magen beherrschend, schnurrt San-San zurück, schießt hinauf in die Mansardenwohnung und ruft ihren Herrn und Gebieter Raul im Hotel Pelikan an.


Der Busbahnhof ist halbleer, nur gelangweilte, aufgetriebenen Piroggen ähnliche Verkäuferinnen treten hinter ihren mit Kaugummi und Limonaden überladenen Ständen auf der Stelle.
    »Ich muß nach Salacgrîva, hab’ aber kein Geld.«
    »Dann geh’n Sie zu Fuß«, antwortet die vergißmeinnichtäugige Kassiererin am ersten Fahrkartenschalter betont gelassen. »S. Stalidzâne - Kassiererin«, verrät ein Schildchen.
    »Ich gebe Ihnen meinen Ehering für eine Fahrkarte nach Salacgrîva.«
    Einen Augenblick lang holt der zweite Schalter Atem, taxiert Ninas vor Entschlossenheit betaute Stirn und knurrt: »Hier wird gearbeitet.«
    Der dritte Schalter ist geschlossen, und bevor die Frau auch nur ihre Frage an die Alte mit dem Tripelkinn am vierten Schalter richten kann, ist S. Stalidzâne herbeigeeilt und zischt, daß man Bettler, Penner, Flittchen und Steuerhinterzieher vergiften müßte wie Ratten oder tollwütige Köter.
    »Laß dich gar nicht drauf ein, Wilma, laß dich überhaupt nicht drauf ein!«
    Klack, und auch der vierte Schalter ist zu.


Nachdem sie sich einen Überblick über die Parade der Hunde- und Katzenverkäufer unter der Bahnbrücke verschafft hat, bleibt Nina bei einem Mädchen mit Siamkatzen stehen.
    »Wie läuft das Geschäft?«
    »Steh’ schon seit einem Monat für nichts hier ’rum.«
    »Und Sie, mein Herr?«
    Der Angesprochene knetet einen triefäugigen Bernhardinerwelpen, den er sich unter das stoppelige Kinn gestopft hat.
    »Was kostet der?«
    »Zwanzig Lat*. So gut wie umsonst. Würde ihn selber behalten, werde aber operiert und hab’ keinen, der ihn versorgt.«
    »Was halten Sie davon: die zwanzig Lat gegen den hier.«
    Endlich hat Nina den breiten Ring von ihrem verschwitzen Finger geschraubt und reicht ihn dem Mann.
    »Hochkarätig, Sie können nachschauen.«
    »Verzieh dich, räudige Zigeunerin!«
    Im Handumdrehen gerät der Körper des Mannes vor Zorn in Wallung, die Augen flackern auf, und die umstehenden Frauen mit ihren Hunden, Katzen, Hamstern, weißen Ratten und Kanarienvögeln rücken enger zusammen, als machten sie sich zum Chorgesang bereit, bedrohlich auf der Stelle tretend, als wären sie unschlüssig, ob sie nun vorrücken oder stehenbleiben sollen.
    »Man muß die Polizei rufen«, sagt die Siamkatzenverkäuferin naseweis und reckt den Hals, als halte sie nach einem Polizisten Ausschau. Nina bemerkt eine Handbreit unterhalb von ihrem Ohr einen ovalen, dunkelrot-bläulichen Fleck.
    »Vater - Collie, Mutter - Schäferhund«, trällert schmeichlerisch und unablässig ein dicklicher Rotschopf aus dem Schatten seiner synthetischen Schirmmütze, vor sich einen stattlichen Korb voller Welpen.


In der Fußgängerunterführung betteln an jenem Morgen nur eine dreißigjährige Wasserstoffblondine in Baumwollstrümpfen mit zwei wie absichtlich schmuddeligen Mädchen und der Alte auf Rädern.
    »Wieviel hast du?« Nina hockt sich neben den Beinlosen und seinen offenstehenden Pappkoffer. Ein Brodem von unausgeschlafenem Fusel und seit der Okkupation Lettlands nicht mehr geputzten Zähnen schlägt ihr entgegen.
    »Nichts, ist noch früh.«
    »Red’ nicht! Wenn du schwindelst, schick’ ich dir Þora* auf den Hals.«
    »Was soll das?! Geh’ selber arbeiten, miese Nutte!«
    »Rück’ schon raus, sonst schieben dich meine Leute in die Daugava.«
    »Drei Lat. Basta!« Der Alte spuckt aus und kramt in seiner ausgebeulten Tasche.
    »Und hier hast du ’nen Ring. Basta!«


Als sich die hitzig errötete Frau wieder dem Fahrkartenschalter nähert, packt jemand von hinten ihre beiden Ellenbogen und drückt sie zusammen, daß die Knochen knirschen. Nina reißt sich mit einem Ruck los und prallt um ein Haar gegen ein riesiges, rötliches Hängegesicht mit schiefem, nikotingelbem Schnurrbart und einem zerkauten Streichholz zwischen den glänzenden, schlaffen Lippen.
    »Dawai*, und kein Theater. Her damit!«
    »Hilfe! Überfall! Hilfe!« hört Nina sich schreien, und einen Moment später ist das Hängegesicht, welch Wunder, verschwunden.
    Die Frau hat sich schon ihre Fahrkarte geschnappt, als die Vergißmeinnichtaugen der Kassiererin S. Stalidzâne vom ersten Schalter Ninas gehetztem, fast raubtierhaften Blick begegnen.
    »Verdient, he? Wofür ich drei Tage lang arbeiten muß, hat so eine in zehn Minuten beisammen. Sie sollten die Landwehr* rufen, Genossin* Vîtoliòa. Man muß auf der Hut sein, auf der Hut!«
    Doch diese Worte verhallen hinter Ninas Rücken.
    Ihren Tränen läßt die Frau erst dann freien Lauf, als der Regionalbus aus seiner Haltebucht schaukelt.


* Erläuterungen:

  • iela (lett.) = Straße; Tirgoòu iela = Kaufmannsstraße, die einstige Kopstrate bzw. Kaufstraße, zentrale Gasse in der Rigaer Altstadt
  • Lats: Seit 1993 wieder lettische Nationalwährung; 1 Ls = 100 santîmu = ca. 1,40 Euro
  • Þora: Verkürzung des russ. Namen Georgij
  • dawai (russ.) = na los, los jetzt, vorwärts
  • Landwehr: Paramilitärische Schutztruppe in dünnbesiedelten Staaten (z. B. Estland, Finnland, USA)
  • Genosse: Allgemeine Anrede während der Sowjetzeit



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