M. Knoll (Hg.) | Wunder und Wunden

Leseprobe: Seiten 107 und 51



ADVENT


Ein heller Stern begab sich auf den Weg.

Noch sehen wir ihn nicht, noch sind wir blind,
Noch tasten wir durch grausig Winterdunkel
Und hoffen auf Erhörung des Gebets.

Das Warten birgt verhaltne, schwere Zärtlichkeit,
Und deren schwacher Glanz streift die Gesichter
Wie Kerzenlicht im dunklen Gotteshaus.

Und bebend spüren wir, daß er bald naht,
Und glänzender und mächtiger mit jedem Tag
tritt eine neue Sonne aus dem Erdenschatten.

Schon schimmert zarter Glanz auf den Gesichtern:
Das Kind hat sich geregt im Mutterschoß,
Und auf den Weg hat sich ein heller Stern begeben.

Anna Rancâne (*1959)
© Matthias Knoll

 

 

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Der Winter ist das größte weiße Klavier auf der Welt,
doch so leise, so leise spielt es;
nur wenn du dich in eine Schneewehe schmiegst,
das Ohr an das Weiße und Weiche legst
und lange lauschst,
sehr lange,

hörst du, wie sachte die Schneeflocken fallen
und jemandes Schritte in der Ferne knirschen -

da naht sie
und setzt dich auf,
reibt mit zarten, rosigen Händen dein Antlitz
haucht dir warmen Atem ins Hemd,
weint
und beginnt abermals alles von vorne
und bewahrt vor dem Erfrieren.

Mâris Krautmanis (*1964)
© Matthias Knoll



© 1993 Matthias Knoll  •  D-12357 Berlin

 

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